Seltener ist es ein Unfall, öfter ein schleichender Verschleißprozess von Körper und Seele: Die Schwerbehindertenvertreter Thomas Weber und Silvia Frauenkron erläutern, woran Arbeitnehmer erkranken können und wie sie Kollegen mit Behinderungen unterstützen.
Warum finden viele Menschen mit Behinderung so schwer eine Beschäftigung? Caroline Wallner-Mikl, Disability-Managerin der REWE International AG, erklärt wie es gelingt, Vorurteile in der Belegschaft abzubauen und warum Recruiter Bewerbungsgespräch manchmal anders führen müssen.
Wie ist es, als Schwerbehinderter bei der REWE Group zu arbeiten? Drei Kollegen berichten, welche Herausforderungen ihnen begegnen, wie das Zusammenspiel im Team klappt und warum Arbeit für sie enorm wichtig ist.
Manchmal geht es ganz schnell. Ein Unfall oder eine Erkrankung können einen eben noch uneingeschränkt leistungsfähigen Menschen dauerhaft aus der Bahn werfen. Andere müssen von Geburt an mit einem gesundheitlichen Handicap zurechtkommen.
Zum Jahresende 2017 lebten in Deutschland 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl der vier Millionen-Städte Berlin, Hamburg, München und Köln. Etwa 3,3 Millionen von ihnen befinden sich im erwerbsfähigen Alter. Sie könnten im Rahmen ihrer Möglichkeiten einem Job nachgehen. Nur wo?
Die meisten finden Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen – und verbringen dort ihr gesamtes Arbeitsleben. Dabei würden sie in vielen Fällen lieber Seite an Seite mit nichtbehinderten Kollegen arbeiten. So wie es auch die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. Aber es gibt Barrieren. Vorurteile, die meinen, behinderte Menschen seien weniger leistungsfähig und ihre Integration sei mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden. Aber es tut sich was. Immer mehr Unternehmen stellen fest, dass behinderte Menschen für viele Teams ein Gewinn sein können. Warum? Schon allein, weil sie – wie in inklusiven Schulklassen – für ein besseres Arbeitsklima sorgen. Aus demografischen Gründen kann es sich ohnehin kein Arbeitgeber mehr leisten, Bewerber mit einem Handicap nicht zum Bewerbungsgespräch zu bitten.
Leicht gehandicapt oder gesundheitlich schwer eingeschränkt? Entscheidend ist die Definition des Sozialgesetzbuchs. Danach gilt jemand als behindert, wenn er von folgenden Einschränkungen betroffen ist:
- Beeinträchtigung von Körperfunktionen (etwa Gehbehinderungen)
- schwere psychische Erkrankung
- verminderte geistige Leistungsfähigkeit (zum Beispiel Down-Syndrom)
- die Beeinträchtigung voraussichtlich länger als sechs Monate vorliegt
- die Entwicklung der Personen vom altersentsprechend typischen Zustand abweicht
- und die Personen aufgrund dieser Einschränkungen in ihrer Mitwirkung an einem Leben in Gesundheit beeinträchtigt ist.
Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30, aber weniger als 50 gelten als gleichgestellt mit den Schwerbehinderten und es stehen ihnen somit sämtliche Rechte zu, die auch die schwerbehinderten Arbeitnehmer genießen.
Arbeitgeber (Unternehmen und öffentlicher Dienst), die im Jahresdurchschnitt mindestens 20 Arbeitsplätze (ohne Auszubildende) bereitstellen, sind verpflichtet, auf mindestens fünf Prozent der Stellen schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Es gibt jedoch Erleichterungen für kleinere Betriebe, und unter bestimmten Bedingungen darf auf- oder abgerundet werden. Konkret: Betriebe mit 20 bis 39 Arbeitsplätzen müssen mindestens einen behinderten Menschen beschäftigen. Bei 40 bis 59 Stellen sind es zwei; bei 60 bis 69 sind es drei. Wichtig: Die Beschäftigungsverpflichtung ist nicht daran geknüpft, dass der Arbeitgeber über freie Stellen verfügt. Die Verpflichtung gilt selbst dann, wenn ein Betrieb keine Möglichkeiten hat, einen behinderten Menschen zu beschäftigen.
Arbeitgeber, die die vorgeschriebene Quote nicht erfüllen, müssen eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt abführen. Sie soll einen finanziellen Ausgleich gegenüber Arbeitgebern schaffen, die Schwerbehinderte beschäftigen und denen dadurch erhöhte Kosten entstehen. Wer beispielsweise eine Beschäftigungsquote zwischen drei und fünf Prozent aufweist, muss je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz 125 Euro monatlich zahlen. Beträgt die Quote weniger als zwei Prozent werden 320 Euro fällig.
Umfangreiches Datenmaterial liefert die Beschäftigungsstatistik schwerbehinderter Menschen. Sie basiert auf den Daten, die von der Bundesagentur für Arbeit jährlich erhoben werden. Problem: Die Angaben sind nicht sonderlich aktuell. Die Statistik wird jährlich mit einer 15-monatigen Wartezeit veröffentlicht
- 2016 gab es in Deutschland 160.220 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber
- davon haben 119.295 Arbeitgeber schwerbehinderte Menschen beschäftigt, 40.925 haben keine beschäftigt
- 63.675 Arbeitgeber mussten keine Ausgleichsabgabe zahlen; 96.545 Arbeitgeber mussten Ausgleichsabgabe zahlen
- 1.078.433 Pflichtarbeitsplätze waren mit schwerbehinderten Menschen besetzt
- 274.466 Pflichtarbeitsplätze waren unbesetzt
- die Beschäftigungsquote betrug 4,7 Prozent. Dabei wiesen private Arbeitgeber eine Quote von 4,1 Prozent auf; bei öffentlichen Arbeitgebern betrug die Quote 6,6 Prozent
Es gibt keine Beschäftigungsgarantie für Schwerbehinderte. Bei vertretbaren Gründen kann ein Arbeitgeber immer eine Kündigung aussprechen. Dafür benötigt er jedoch die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes. Ansonsten ist die Kündigung unwirksam. Auch ist der Arbeitgeber verpflichtet, vorab die Schwerbehindertenvertretung zu informieren und anzuhören. Menschen mit einer für das gesamte Kalenderjahr anerkannten Schwerbehinderung erhalten einen Zusatzurlaub von fünf Tagen.
Nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist die Frage nach einer Behinderung im Einstellungsgespräch unzulässig. In der Praxis kann das problematisch sein, denn manche Stellen sind für Schwerbehinderte ungeeignet. Anders ist der Fall in einem bestehenden Arbeitsverhältnis. Hier hat der Arbeitgeber nach sechs Monaten das Recht, die Frage nach einer Schwerbehinderung zu stellen. So hat es das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 16. Februar 2012 entschieden.
Werkstätten
"Das Miteinander von Menschen mit einer Behinderung und voll leistungsfähigen Kollegen..." Die Aussage ist aus meiner Sicht so nicht richtig. Kollegen mit einer Behinderung sind genauso leistungsfähig wie andere Kollegen. Es stört mich, das mit der Behinderung automatisch eine verminderte Leistungsfähigkeit gleichsetzt wird. Passt der Arbeitsplatz perfekt, gibt es keine oder nur sehr selten Unterschiede.
Liebe Frau/lieber Herr Gräfe,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie haben Recht.
In den letzten 2 Jahren seit Erscheinen dieses Artikels hat sich unsere Redaktion intensiv mit dem Thema Diversity/Menschen (und insbesondere berufstätige Menschen) mit Behinderung befasst – und eine eigene Serie dazu aus der Taufe gehoben. In diesen 2 Jahren haben wir uns mit dem Thema auseinandergesetzt, und vor allem haben wir viele betroffene Kolleginnen und Kollegen kennen gelernt und ihre Sicht auf die Dinge. Kurz: Wir würden das aus heutiger Sicht nicht mehr so formulieren, weil wir dazu gelernt haben.
Herzliche Grüße
auch im Namen der one-Redaktion
Bettina Rees