An einer Supermarktkasse arbeiten – das wünschen sich viele Menschen mit einer Behinderung. Doch die Ausbildung im Alltagsbetrieb ist für sie schwierig. Billa und Merkur gehen jetzt in Wien neue Wege, um Vielfalt und Inklusion weiter zu stärken.
Tempo, Tempo, Tempo – an der Supermarktkasse geht es häufig hektisch zu. Der Kundenandrang ist groß, alle haben es eilig und nicht jeder ist freundlich. Manchmal ist dann auch noch ein Produkt falsch ausgezeichnet, es gibt Probleme mit einer Kreditkarte oder ein Storno verlangt die volle Aufmerksamkeit des Personals. Neulinge an der Kasse erschrecken mitunter, wenn sie den Job – trotz umfangreicher Einschulung – plötzlich allein bewältigen müssen. Doch irgendwann stellt sich Routine ein, und die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter an der Kasse lässt sich durch nichts mehr schrecken.
Menschen mit einer Behinderung bleibt die Tür zur Tätigkeit als Kassiererin oder Kassierer meist verschlossen. „Sie benötigen zumeist mehr Zeit als die üblichen Einschulungstage, die neu Mitarbeitende an der Kasse eingewiesen werden. Hinzu kommt, dass eine Schulung von Menschen mit Behinderung an einer echten Kasse bei laufendem Betrieb in den seltensten Fällen möglich ist. Dafür geht es dort meist zu hektisch zu“, erläutert Caroline Wallner-Mikl, Disability-Managerin der REWE International AG.
Aber: Es gibt einen großen Bedarf an Kassenpersonal. Deshalb würden Billa und Merkur gerne zukünftig auch vermehrt Bewerbungen von Menschen mit Behinderung berücksichtigen. „Wir suchen dringend Kassiererinnen und Kassiere. Allein im Raum Wien sind derzeit bei Billa in 286 Filialen rund 40 Stellen zu besetzen“, sagen Dominique Müllner und Julia Jirovec, Mitarbeiterinnen im Human Resource Management von Billa Merkur Österreich. Schulungsräume mit voll funktionsfähigen Kassensystemen: Harald Mießner, Vorstand Vertrieb Billa Merkur Österreich, Elke Peller-Kühne, Leiterin Human Resources Management Billa Merkur Österreich, Teilnehmer des Ausbildungsprojekts und Vanja Sehic-Gavrilovic, Leiterin Haus Aktiv
Lernen im eigens eingerichteten Schulungsraum
Die beiden Handelsfirmen haben nun einen neuen Weg beschritten, um offene Positionen zu besetzen und gleichzeitig Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Gemeinsam mit der Wiener Initiative „Haus Aktiv“ starteten Billa und Merkur im September ein Ausbildungsprojekt für Kassen- und Verkaufspersonal. In deren Räumlichkeiten im 23. Wiener Gemeindebezirk wurden – gefördert vom Sozialministeriumsservice – entsprechende Schulungsräume eingerichtet: inklusive einer voll funktionsfähigen Kasse, gefüllten Warenregalen mit unterschiedlichen Übungsprodukten und Einkaufswagen.
„Unsere Ausbilderinnen und Ausbilder haben sich in Kassa-Basisseminaren von Billa das Rüstzeug geholt, um die Teilnehmenden zu schulen – in einer ruhigen Atmosphäre, ohne Kunden. Das schafft Sicherheit“, meint Vanja Sehic-Gavrilovic, Leiterin von „Haus Aktiv“. Die Schulungen laufen an vier Tagen in der Woche, jeweils von neun bis zwölf Uhr. Bei Bedarf kommen Trainerinnen und Trainer von Billa und Merkur auch ins Haus an der Wiener Schuhfabrikstraße und leisten Unterstützung
Die wichtigsten Dinge zur Regalpflege und Präsentation von Obst und Gemüse erfahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „Haus Aktiv“ in Filialen von Billa und Merkur – und geben es an die Teilnehmenden des Projekts weiter. „Aufgaben im Markt, bei denen es zu vergleichsweise weniger Kundenkontakten kommt, lassen sich für Menschen mit Behinderung häufiger auch vor Ort in einer Filiale erlernen. Bei einer Kassiertätigkeit ist das vergleichsweise schwieriger“, meint Julia Jirovec.
Start gelungen
„Wir hoffen durch die Zusammenarbeit mit Haus Aktiv pro Jahr mindestens zehn Menschen mit Behinderung als Mitarbeitende zu gewinnen“, sagt Dominique Müllner. Der Start ist gelungen – trotz der Corona-Pandemie. Bald erwarten Billa und Merkur die ersten Absolventen zu einer Praktikum-Phase unter echten Bedingungen in ihren Filialen. Aktuell beschäftigen Billa und Merkur rund 500 Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. „Zusätzlich zu den 10 Personen von Haus Aktiv, streben wir mindestens 40 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung pro Jahr für Billa und Merkur an“, sagt Caroline Wallner-Mikl. Julia Jirovec (l.) und Dominique Müllner (r.) von Billa Merkur sowie Vanja Sehic-Gavrilovic (Mitte), die Leiterin des Hauses.
Menschen mit Behinderungen oder psychischen Beeinträchtigungen fit machen für den regulären Arbeitsmarkt – dieses Ziel verfolgt seit 19 Jahren „Haus Aktiv“, ein Tochterunternehmen des vom österreichischen Sozialministeriums unterstützten Vereins Das Band. In einem mehrstöckigen Gebäude in der Wiener Schuhfabrikgasse bieten speziell ausgebildete Trainer praktische und theoretische Schulungen in den Bereichen Gartenarbeit, Reinigung, Handwerk und Einzelhandel. Die Teilnehmenden sind mindestens 24 Jahre alt und werden vom Arbeitsmarktservice (AMS), dem Pendant der Agentur für Arbeit in Deutschland, an das „Haus Aktiv“ vermittelt. Sie weisen einen Grad der Behinderung von 50 Prozent (bei psychischen Beeinträchtigungen mindestens 30 Prozent) auf.
In einer zweiwöchigen Startphase erkunden die Trainer zunächst die Talente der Teilnehmenden und bereiten sie in der Folge ohne Zeitdruck auf eine konkrete Tätigkeit vor. Die maximale Verweildauer im Projekt beträgt 52 Wochen. Je nach Berufsfeld sind die Absolventinnen und Absolventen jedoch in sehr viel kürzerer Zeit bereit für ein Praktikum bei einem der Kooperationspartner, zu denen seit September auch Billa und Merkur gehören. In diesem Praktikum klärt sich, inwieweit die Projektteilnehmer tatsächlich fit sind für den anvisierten Job - oder ob sie eventuell nachbetreut werden müssen. Die Vermittlungsquote ist gut. „Von den etwa 100 Männern und Frauen, die in jedem Jahr unsere Schulungen durchlaufen, finden 20 bis 35 eine feste Anstellung im regulären Arbeitsmarkt“, betont Vanja Sehic-Gavrilovic, Leiterin von „Haus Aktiv“.