nach oben
nach oben
Marco VDM – Getty Images
Betriebliche Suchtbeauftragte
„Das Thema ‚Sucht‘ ist endlich kein Tabu mehr“
von Sylvia Hannstein und Bettina Rees

Wenn Trinken, Tabletten oder Zocken zur Suchtkrankheit wird, leiden auch im beruflichen Umfeld alle: Die betroffenen Mitarbeitenden, Kolleg:innen, Vorgesetzte - und nicht zuletzt die Arbeit selbst. Unterstützung gibt es bei uns durch Mitarbeitende mit einer umfangreichen Zusatzausbildung: die betrieblichen Suchtbeauftragten, so wie Claudia Kottke-Kynast.

Claudia Kottke-Kynast, Betriebsratsvorsitzende der Region Ost bei toom Baumarkt, und seit 2012 betriebliche Suchtbeauftragte für toom-Mitarbeitende:

one: Claudia, du bist seit rund zwölf Jahren Suchtbeauftragte bei toom – sozusagen eine Frau der ersten Stunde. Was hat dich damals dazu motiviert?
Claudia Kottke-Kynast:
Ja, ich habe zusätzlich zu meinem „normalen“ Job als Betriebsratsvorsitzende damals die Zusatzausbildung zur Suchtbeauftragten bei toom absolviert. Vor zwölf Jahren war ich die erste, inzwischen sind wir etwa 20 bei toom. Mein Ziel war von Anfang an, dass im Unternehmen offen über Sucht geredet wird. Egal ob Spielsucht, Medikamente, Alkohol oder was auch immer: Es sollte sich keiner schämen und verstecken. Sucht ist eine Krankheit – und man kann sie nur behandeln, wenn man sie thematisiert.

one: Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert beim Umgang mit dem Thema „Sucht“?
Claudia Kottke-Kynast:
Inzwischen wird dem Thema bei toom mit Offenheit begegnet. Das passt zu unserer Unternehmenskultur der Offenheit, und darüber bin ich total happy. Sicher hat es auch etwas damit zu tun, dass sich die Zeiten geändert haben: Unsere Mitarbeitenden sind bedeutend jünger geworden. Früher kam es vor, dass jahrelang geschwiegen und die oder der Betroffene „mitgeschleppt“ wurden. Manchmal eben auch so lange, bis die Rente anstand.

one: Und die Art der Süchte? Hat sich da auch etwas geändert?
Claudia Kottke-Kynast:
Ja, geändert hat sich auch das Suchtverhalten. Eine Weile schien das Thema Alkohol und Rauchen – also Kiffen – mehr oder weniger vom Tisch. Inzwischen gibt es eine Art Revival: Die Jugend fängt wieder an zu trinken und zu rauchen. Gerade hier in Berlin kriegst du überall alles zu kaufen. Das Kiffen ist wieder vollkommen normal geworden.

one: Hat das Thema „digitale Spielsucht“ nicht rapide zugenommen – in Zeiten von Corona?
Claudia Kottke-Kynast:
Das war so, hauptsächlich bei jungen Leuten. Aber an den Handys wird inzwischen nicht mehr groß gespielt. Wenn, dann am PC, und dann logischerweise zuhause. Am Markt-PC wird nicht gezockt, weil dort alles nachvollziehbar ist. Und es sind ja auch bestimmte Sachen gesperrt.
Ich glaube, das ist ein Erbe von Corona, wo wir alle die meiste Zeit zu Hause verbringen mussten…Das geht so weit, dass die jungen Leute dann teilweise nicht mehr ihre Stromrechnung bezahlen können. Bei uns fällt das leider erst auf, wenn der Vollstrecker kommt, und das Gehalt pfändet. Das hatten wir tatsächlich auch schon.

one: Beobachtest du noch weitere Auswirkungen, die Corona hinterlassen hat?
Claudia Kottke-Kynast:
Tatsächlich sogar eine positive: Ich habe den Eindruck, die Tablettenesserei aus Krankheitsgründen ist durch Corona weniger geworden Viele sagen sich jetzt: Es ist besser, ich bleibt mal drei Tage zu Hause, anstatt mich zur Arbeit zu schleppen und Tabletten gegen Schmerzen oder Fieber zu schlucken. Irgendwann wirken die Tabletten vielleicht nicht mehr - oder werden gar zum Suchtproblem. Das Thema „Gesundheit“ ist vielen Kolleg:innen bewusst geworden durch Corona, ist mein Eindruck. Das ist ein positiver Effekt.

„Viele Betroffene sind im Grunde dankbar, wenn man das Thema anspricht“Claudia Kottke-Kynast
Doch es gibt auch sehr problematische Auswirkungen von Corona: Wenn psychologische Betreuung bei Sucht notwendig ist, ist das größte Problem: Du kriegst keine Termine! Das ist eine Katastrophe. Man hat sich zwar ein Netzwerk aufgebaut mit Suchtberatungsstellen, aber sie sind alle an ihre Grenzen gekommen, so wie die Suchtkliniken auch.

one: Wie reagieren betroffene Kolleg:innen, wenn sie auf ihre Sucht angesprochen werden?
Claudia Kottke-Kynast:
Viele Kolleg:innen sind im Grunde dankbar, dass man das Thema anspricht. Erst wird oft geleugnet, aber dann ändert sich das, und sie sagen: Ich schäme mich! Dann sagen wir: Alles gut, das brauchst du nicht. Das ist eine Krankheit! Viele haben das halt bis dahin nie so gesehen. Und es hilft, wenn dir jemand hilft, die Krankheit zu kurieren.

one: Was bedeutet das konkret: Welche Maßnahmen ergreift ihr?
Claudia Kottke-Kynast:
Suchtbeauftragte müssen deutliche Worte finden: Es muss zum Beispiel ganz klar gesagt werden: Du hast im Markt nüchtern zu erscheinen. Wir können zwar nicht einfach pusten oder testen lassen, aber es hat Konsequenzen, wenn jemand dann wieder erwischt wird.
Die Mitarbeitenden machen eigentlich mit. Gerade wenn man ihnen erklärt, was der Hintergrund ist: Der Unfallschutz zum Beispiel greift nicht, wenn jemand unter Alkohol- oder Drogeneinfluss mit dem Hubwagen fährt. Und passiert etwas, dann hat er sein Leben lang Schuldgefühle, bekommt keine Rente… Spätestens da fangen die Leute an, aufzuwachen.
Ganz wichtig ist die Begleitung, aber eben auch die Eigenverantwortung. Wenn du zum Beispiel eine Beratungsstelle aufsuchst, musst du ohne Aufforderung den Nachweis vorlegen, dass du dort warst und regelmäßig in Kontakt bist. Das ist notwendig, um das Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Mitarbeitenden wiederaufzubauen.
Doch wir unterstützen und begleiten natürlich dabei. Das ist ganz wichtig, und ich glaube, es funktioniert ganz gut. Wir hatten in den vergangenen Jahren keinen Fall, wo jemand in einen Entzug musste. Und wir mussten noch nie einen Mitarbeitenden aufgrund von Suchtproblemen entlassen.

one: Ihr Suchtbeauftragten könnt sicherlich nicht all diese Fälle allein stemmen – und vor allem erkennen. Gebt ihr euer Wissen intern weiter – zum Beispiel an Führungskräfte?
Claudia Kottke-Kynast:
Ja, es werden auch die Führungskräfte geschult. Diese Maßnahme ist im Laufe der Jahre entstanden - wir haben dafür zum Beispiel einen Leitfaden. Jede SGE hat zwar ihren eigenen, aber im Endeffekt ist das alles inhaltlich gleich. Es gehört auch zu unserem Job als Suchtbeauftragte, neuen Führungskräften unsere Hilfe anzubieten: Wenn dir etwas auffällt, melde dich!


In 14 Tagen stellen wir weitere Suchtbeauftragte vor, die unter anderem bei PENNY und REWE betroffene Mitarbeitende beraten. 

Sucht am Arbeitsplatz
„Hilfsangebote statt Sanktionen“

Ob Alkohol, Aufputschmittel, Cannabis, einarmige Banditen oder Videoballerei – für alle gilt: Die Sucht danach ist eine Krankheit, wer krank ist, braucht Hilfe. Wer bei der REWE Group arbeitet, bekommt klar geregelte Unterstützung – durch Führungskräfte und betriebliche Suchtbeauftragte. Ein kurzer Überblick.

„Nicht mehr kontrollierbares Verlangen“
„Sucht ist das nicht mehr kontrollierbare Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“ – so lautet die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Unterschieden wird in die so genannte substanzgebundene Abhängigkeit, wie Alkohol oder illegale Drogen, und in die substanzungebundene Verhaltenssucht, zum Beispiel Glücksspiel-, Online- aber auch Arbeits- oder Esssucht.

Sucht ist keine „Charakterschwäche“, sondern eine Krankheit. 1986 erkannte das Bundessozialgericht „Trunksucht” als Abhängigkeitserkrankung an, 2019 nahm die WHO die Videospielsucht („gaming disorder“) in ihre internationale Klassifikation von Krankheiten auf.

„Keine Seltenheit“
Suchterkrankungen gehören zu den am häufigsten auftretenden, psychischen Störungen, neben der Sucht selbst leiden Betroffene oft auch an Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.   Der Weg in die Sucht ist oft mit einschneidenden persönlichen Schicksalen verbunden und betrifft die Familie ebenso wie Freund:innen oder das berufliche Umfeld.

Sucht im Job
Suchterkrankungen machen nicht vor dem Markteingang oder der Bürotür Halt. Wer süchtig oder suchtgefährdet ist, nimmt dies mit auf die Arbeit. Die Folgen sind einschneidend – für alle. Sinkende Arbeitsleistung, steigende Unfallgefahr, auffälliges Verhalten, verringerte Sozialkontakte und zunehmende Isolation und Unzuverlässigkeit können Anzeichen sein.

Abhängigen Menschen ist das oft gar nicht bewusst. Wer sie – frühzeitig und freundlich – auf ein (vermutetes) Suchtproblem anspricht, stößt daher vielfach auf offene Ohren. Leicht ist es aber natürlich nicht, jemanden auf Auffälligkeiten anzusprechen, gleichzeitig Hilfe anzubieten und Schaden von Arbeitgeber und betroffenem Arbeitnehmer abzuwenden.

Gesamtbetriebsvereinbarung Suchtprävention
Von daher gibt es bei uns in der REWE Group die betrieblichen Suchtbeauftragten und einen klaren „Fahrplan“, mit denen die Führungskräfte unterstützt werden, ihrer Fürsorgepflicht für die betroffenen Mitarbeitenden nachzukommen, akut einzugreifen, aber auch präventiv zu handeln.

Im Dezember 2021 trat die Gesamtbetriebsvereinbarung „Suchtprävention und Umgang mit Auffälligkeiten am Arbeitsplatz“ in Kraft. Sie definiert unter anderem die Hilfsangebote für Betroffene, die Rollen der Führungskräfte und der betrieblichen Suchtbeauftragten oder Wiedereingliederung. (zu finden beispielsweise in Inside/Meine Arbeitswelt/Gesundheit und Soziales)

Fürsorgepflicht der Führungskraft
Fürsorge und Intervention sind die Hauptaufgaben einer Führungskraft gegenüber suchtauffälligen Mitarbeitenden. Dazu gehört akut die Pflicht dafür zu sorgen, dass „berauschte“ Mitarbeitende nicht nur nicht eingesetzt werden, sondern auch sicher nach Hause gelangen. Entsprechend der Gesamtbetriebsvereinbarung (siehe Slider), dass „sachkundige vertrauliche Gespräche und Hilfsangebote Vorrang vor Sanktionen“ haben sollen, gibt es eine Art Fahrplan für Führungskräfte, beginnend mit einem ersten Fürsorgegespräch unter vier Augen und weitergehend – bei arbeitsvertraglichen Pflichtverletzungen – bis fünf Stufengesprächen, bei denen  auch die Suchtbeauftragten anwesend sind.

Unsere betrieblichen Suchtbeauftragten
Die betrieblichen Suchtbeauftragten sind in der REWE Group die erste Anlaufstelle für suchtmittelauffällige Beschäftigte. Dabei nehmen sie als Vertrauensperson mehr als nur die wichtige Funktion eines Bindegliedes zwischen den Betroffenen, dem Arbeitgeber und professionellen Suchthilfeeinrichtungen ein. Sie gewährleisten eine individuelle Beratung und Unterstützung der betroffenen Beschäftigten und haben beratende Funktionen gegenüber Personalverantwortlichen. Sie beteiligen sich auch an Maßnahmen zur betrieblichen Suchtprävention und Gesundheitsförderung.

Die REWE Group bildet in Kooperation mit der DAK-Gesundheit eigene Mitarbeitende zu betrieblichen Suchtbeauftragten aus. Die Beschäftigten haben das Recht, sich jederzeit bei ihnen beraten zu lassen, auch während der Arbeitszeit. Auch Führungskräfte können sich von den Suchtbeauftragten zum Umgang mit betroffenen Mitarbeitenden beraten lassen sowie ihren Mitarbeitenden eine Beratung empfehlen. Alle diese Beratungsgespräche unterliegen der Schweigepflicht.

Kontakt zu Suchtbeauftragten

Die Kontaktdaten der Suchtbeauftragten findet Ihr beispielsweise hier:

  • Gemeinsam.topfit, der digitalen Plattform des betrieblichen Gesundheitsmanagements
  • Pennypedia („Suchtbeauftragte“ im Suchfeld eingeben)
  • Orange („Suchtbeauftragte“ im Suchfeld eingeben)
  • Inside (Meine Arbeitswelt/Benefits/Gesundheit und Soziales)
  • Euer jeweils zuständiger Betriebsrat

 

Weiterführende Links
DigiSucht-Plattform rund um verschiedene Abhängigkeitserkrankungen des Bundesministeriums für Gesundheit für Betroffene und Angehörige.

Informationen und Adressen von Selbsthilfe-/Onlinegruppen
 


Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.: in ihrem Suchthilfeverzeichnis finden sich alle lokalen Suchtberatungseinrichtungen, der Reiter „Sucht und Migration“ gibt einen Überblick über Infobroschüren in vielen verschiedenen Sprachen.

Mein Kommentar
Kommentieren
Auch interessant
Newsletter