Hinsehen statt wegschauen, ansprechen statt schweigen, handeln statt Schulterzucken: Wie Kolleg:innen und Führungskräfte Suchtbetroffene unterstützen können, wissen mit Andreas Heimhöfer und Ines Popp zwei unserer erfahrenen betrieblichen Suchtbeauftragten.
Einen Weg aus der Abhängigkeit hinaus und wieder hinein in ein produktives Arbeitsleben weisen rund 80 REWE Group-Kolleg:innen, die ehrenamtlich als betriebliche Suchtbeauftragte Ansprechpartner:innen sind für Betroffene, Vorgesetzte und Teamkolleg:innen. Wie und auf welcher Grundlage sie aktiv werden, haben wir im ersten Teil unserer Serie vorgestellt . Hier nun sprechen zwei Suchtbeauftragte der ersten Stunde, Ines Popp und Andreas Heimhöfer, über ihre Aufgaben:
Andreas Heimhöfer, Ausbildungstrainer und betrieblicher Suchtbeauftragter in der Region Ost, über seine Aufgaben, die Drogen der ganz Jungen und den sensibler gewordenen Umgang mit betroffenen Kolleg:innen.
one: Herr Heimhöfer, was tun Sie als Suchtbeauftragter?
Andreas Heimhöfer
Andreas Heimhöfer: Zum einen berate und begleite ich Betroffene sowie deren Vorgesetzte, ich unterstütze bei den Stufengesprächen und vermittle weiterführende Adressen, zum Beispiel von Selbsthilfegruppen. Es kann vorkommen, dass ich sie zum Erstgespräch in einer Suchtberatung begleite, das heißt, ich bringe sie bis zum Eingang. Ich höre dann später nach, wie es ihnen geht und bleibe in regelmäßigem Kontakt, auch wenn sie zu einem längeren Aufenthalt in eine Suchtklinik gehen.
Ein ganz wichtiger Punkt ist für mich die Prävention. Dazu gehört, alle Mitarbeitenden über unsere Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung zu informieren. Ferner die Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen, die sich bei uns um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kümmern, denn an einer Sucht hängt ja eine Menge dran. Und ich spreche über das Thema Sucht. Mir ist es wichtig, darüber aufzuklären, wie Sucht zustande kommt. Ich möchte erreichen, dass niemand mit einem Suchtproblem einen Stempel aufgedrückt bekommt.
one: Wen klären Sie auf?
Andreas Heimhöfer: Ich kläre alle auf, ob Azubis, Führungskräfte oder auch die HR-Partner, beispielsweise wenn jemand gestohlen hat. Stellen wir fest, hinter dem Diebstahl steckt ein Suchtproblem, dann gehen wir ganz anders damit um. Auch auf meinen Azubi-Seminaren versuche ich aufzuklären. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern auf Augenhöhe. Dann hören sie irgendwann auch zu und fangen an, darüber nachzudenken.
one: Haben die ganz jungen Mitarbeitenden andere Süchte?
Andreas Heimhöfer: Kiffen ist ein Thema. Aber Cannabis ist bei uns im Arbeitsumfeld ein absolutes No-Go. In meinen Augen ist Cannabis keinen Deut besser als Alkohol und das Legalisieren dieser Droge macht sie in meinen Augen salonfähig. Dann sind da die Jugendlichen, die ich „Konsolen-Krieger“ nenne. Das sind die, die bis in die Nacht hinein zocken, morgens nicht aus dem Bett kommen, entsprechend viele Fehler machen oder viele Fehlzeiten produzieren und in der Berufsschule nicht klarkommen.
Etwas seltener kommt die Spielsucht vor. Wir hatten schon Kollegen, die deshalb gestohlen haben und das Geld nach einem Gewinn wieder zurücklegen wollten. Aber jeder weiß ja, man gewinnt im Grunde nie.
Die Sucht Alkohol wiederum betrifft eher die älteren Jugendlichen und die Erwachsenen. Denn der Weg in die Sucht ist ein langer Prozess, an dessen Anfang meist persönliche Schicksalsschläge stehen.
one: Wie kommt man da raus?
Andreas Heimhöfer: Je weiter eine Sucht fortgeschritten ist, umso schwerer kommt man von ihr los. Als ehemaliger Raucher weiß ich das nur zu gut. Sich eine Sucht einzugestehen, ist schwer, aber der erste Schritt. Der oder die Mitarbeitende muss aber selbst draufkommen. Wir Suchtbeauftragten können niemanden retten, wir können nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Wenn jemand nicht will, dann funktioniert es nicht.
one: Oft merken ja Kolleg:innen als Erste, dass etwas nicht stimmt…
Andreas Heimhöfer: Ja, und sie fühlen sich dann manchmal wie ,Verräter', sie wollen niemanden ,anschwärzen'. Ich kann das nachvollziehen. Aber man sollte sich immer bewusst machen: Schweigen hilft den Betroffenen nicht. Mein Tipp ist immer: Reden, nicht verurteilen oder wegsehen. Hier sind wir Suchtbeauftragte eine gute Anlaufstelle. Wir unterliegen der Schweigepflicht, mit uns kann man reden und sich Unterstützung holen.
one: Wie geht der Arbeitgeber mit suchtkranken Mitarbeitenden um?
Andreas Heimhöfer: Wir sind auf einem guten Weg, denke ich. Wir haben die Gesamtbetriebsvereinbarung, sie gibt den Führungskräften eine Art Interventionsplan mit einer festen Abfolge an die Hand: ein Fürsorgegespräch, bis zu fünf Stufengespräche mit klar definierten Abläufen und Zielen. Ein faires Instrument für alle Beteiligten.
Generell ist man sensibler geworden. Ob in den Märkten oder in der Zentrale, die meisten gehen offen miteinander um. Viele Betroffene sprechen mit ihren Vorgesetzten und die wiederum tun das Mögliche, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Sie werden nicht gekündigt, weil sie süchtig sind, sondern gehen in Therapie mit der Aussicht, dass sie ihren alten Job nach Therapie und Wiedereingliederung zurückbekommen. Ich weiß, dass viele andere Unternehmen da viel härter sind und schneller die Kündigung aussprechen. Bei uns behalten sie ihre Arbeit. Aber natürlich, wenn man auch nach dem fünften und letzten Stufengespräch weitermacht, sich nicht an die Regeln hält, keine Therapie macht, dann kann es bis zur Kündigung gehen. Aber zuvor bekommt man bei uns jegliche Chance, um gesund zu werden. Oder besser: um clean zu werden. Ganz gesund wird man ja nie.
Andreas Heimhöfer, HR Kompetenzcenter Teltow, ist seit zwölf Jahren bei der REWE Group als Ausbildungstrainer tätig, die überwiegende Zeit davon bei PENNY, nun in der REWE-Region Ost. 2018 schloss er die Ausbildung zum betrieblichen Suchtbeauftragten ab. Vor seinem Einstieg bei der REWE Group hatte er für verschiedene Bildungsträger gearbeitet, unter anderem im Jugendstrafvollzug.
Ines Popp, seit 17 Jahren in der Region Süd betriebliche Suchtbeauftragte, über die Schlüsselrolle von Führungskräften und die Relevanz des Hinschauens.
one: Frau Popp, sind Sie als betriebliche Suchtbeauftragte eher Ansprechpartnerin für die Führungskräfte oder für die betroffenen Kolleg:innen selbst?
Ines Popp
Ines Popp: Ich bin Ansprechpartnerin für alle, die Beratung und Unterstützung benötigen. Oftmals nehmen zuerst die Führungskräfte Kontakt mit mir auf, die Betroffenen kommen meist erst dann, wenn die Führungskraft bereits ein Fürsorgegespräch geführt hat. Dann kommt der Hinweis: „Bitte wende dich an die Suchtbeauftrage, sie kann dich unterstützen“. Das eröffnet für alle Beteiligten die Chance, gemeinsam neue Wege zu finden.
one: Es fällt ja meist erst den Kolleg:innen auf. Wie sollen sie damit umgehen?
Ines Popp: Betroffene sind meistens sehr froh, wenn man sie anspricht, denn sie wissen ja im Grunde selbst, dass sie auf Dauer so nicht weitermachen können. Der Weg einer Alkoholsucht beispielsweise dauert im Schnitt zehn bis 15 Jahre. Wenn es endlich auffällt, ist das für die allermeisten oft eine Erleichterung und sie sind dankbar. Auch gegenüber der Führungskraft. Wenn die Führungskraft ihre Beobachtungen und Sorgen im vertraulichen Fürsorgegespräch anspricht, brechen viele schon in Tränen aus und nehmen im Nachgang dankend Hilfe an.
one: Wie helfen Sie selbst den Betroffenen?
Ines Popp: Ich suche gezielt nach Beratungsstellen, die sich um die jeweilige Suchterkrankung kümmern. Wenn ein Termin vereinbart wurde, weiß ich den Mitarbeitenden in guten Händen. Oft versuchen Suchtkranke, Verantwortung abzugeben. Aber der erste Schritt raus aus der Sucht ist, sie sich einzugestehen. Der zweite Schritt ist, selbstverantwortlich an die Veränderung heranzugehen. Das bedeutet auch, dass die Termine bei den Beratungsstellen von den Betroffenen selbst vereinbart werden müssen.
one: Apropos Verhaltensänderung: Wie kann der Arbeitgeber hier nachhaltig unterstützen?
Ines Popp: Führungskräfte mit Personalverantwortung nehmen eine Schlüsselrolle bei der betrieblichen Suchtprävention ein. Gerade ein sensibles Wahrnehmen von Warnsignalen – das kann Alkoholgeruch sein, ein verändertes Wesen oder auffallende Nachlässigkeiten – und ein frühzeitiges, klärendes Gespräch sind wichtig. Zuerst kommt immer das bereits erwähnte Fürsorgegespräch. Bei Bedarf und individuell abgestimmt, kann es auch ein Klärungsgespräch mit Führungskraft, HR-Partner und gegebenenfalls mit mir geben. Empfehlenswert ist, am Ende eines ersten Gesprächs auf konkrete Unterstützungsangebote hinzuweisen – zum Beispiel auf interne Hilfe oder örtliche Suchtberatungsstellen, die beim Weg aus der Abhängigkeit helfen. Das Allerwichtigste ist auf jeden Fall, dass man als Führungskraft verbindlich und konsequent ist.
one: Von welchen Süchten reden wir?
Ines Popp: Als allererstes: Alle Süchte sind Krankheiten und müssen als diese auch behandelt werden. Alkoholabhängigkeit zum Beispiel finden wir in jeder Altersstufe. Bei den Jugendlichen, vor allem den jungen Männern, haben wir zudem Onlinesüchte, also Spielsucht oder Streamingsucht. Und wir haben Cannabis – aber Legalisierung hin oder her: Berauschende Mittel sind am Arbeitsplatz gesetzlich verboten.
one: Aber Onlinesucht berauscht doch nicht?
Ines Popp: Forscher:innen nehmen an, dass – wie im Grunde bei jeder Sucht – auch bei dieser Verhaltenssucht das „Glückshormon“ Dopamin ausgeschüttet wird. Sicher ist auf jeden Fall: bis frühmorgens vor dem PC oder am Handy sitzen und ab sechs Uhr im Markt arbeiten – das geht auf Dauer nicht gut, man wird fahrig und unkonzentriert bei der Arbeit, und die Gefahr, zu verunfallen steigt.
one: Was raten Sie allen, die betroffen sind oder in Kontakt mit Betroffenen stehen?
Ines Popp: Sensibel und bewusst mit dem Thema Sucht umgehen. Hinschauen und handeln statt wegschauen. Und wenn man sich selbst hilflos fühlt, Hilfe holen.
Ines Popp, seit 2001 bei REWE (Region Süd) und seit vielen Jahren zuständig für die Themen betriebliches Gesundheitsmanagement und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 2007 Ausbildung zur betrieblichen Suchtbeauftragten, 2020 Zusatzausbildung „Sucht und psychische Erkrankungen“.