Der Arbeitgeber wird zum Kümmerer, wenn es um Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter geht: Im one_Interview erklärt David Matusiewicz, Professor für Medizinmanagement, wie digitales Gesundheitsmanagement die Belegschaft fitter machen kann, warum es ein strategischer Erfolgsfaktor bei der Mitarbeiterbindung wird und wie Unternehmen im Zukunftsmodell „Caring Companies“ immer näher an die Grenze des Privatlebens ihrer Mitarbeiter rücken.
one: Herr Matusiewicz, das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) führte in der Vergangenheit in vielen Unternehmen eher ein Schattendasein. Heute bringen vor allem digitale Angebote eine neue Dynamik. Was hat sich da getan?
David Matusiewicz: Das stimmt, früher erschöpfte sich das Gesundheitsmanagement in vielen Unternehmen in den berühmten Obstkörben im Büro. Hier und da wurde mal eine Rückenschulung angeboten, das war‘s. In Summe: Viel Aktionismus, aber keine zentral gesteuerten, wirklich koordinierten Maßnahmen – und vor allem keine vernünftige Evaluation. Die Digitalisierung macht es nun möglich, mit zentral gesteuerten Maßnahmen alle Mitarbeiter auf einmal zu erreichen, selbst in dezentralen Unternehmen mit zahlreichen Standorten.
one: Wie funktioniert das konkret?
David Matusiewicz: Viele Unternehmen nutzen dafür digitale Plattformen, wie nun auch die REWE Group. Auf diesen Plattformen stehen etwa Lernvideos bereit, auf die alle Mitarbeiter zugreifen und so zeitgleich alle Einheiten einer Maßnahme nutzen können. Das ist einer der größten Mehrwerte des digitalen Gesundheitsmanagements, quasi die digitale Version des Fitnessstudio-Gutscheins. Hinzu kommen der Austausch und die Kommunikation über die Plattform: Nutzer können Feedback abgeben und so dazu beitragen, dass das Angebot besser wird und individuelle Bedürfnisse abdeckt.
one: Was haben die Mitarbeiter davon?
David Matusiewicz: Zunächst einen deutlich niedrigschwelligeren Zugang zu Gesundheitsangeboten – und zwar rund um die Uhr, wenn es Ihnen persönlich gerade am besten passt. Etwa auch nach der Arbeitszeit. Sie haben das gesamte Angebot im Überblick und können sich aus dem Portfolio genau das herauspicken, was zu ihren individuellen Bedürfnissen passt. Manche Plattformen vernetzen die Kollegen auch untereinander und fördern den Austausch. Oder sie motivieren die Mitarbeiter spielerisch: Wer bestimmte Übungen absolviert, erhält für erreichte Ziele zum Beispiel virtuelle Pokale. Verbesserungen werden sichtbar gemacht und motivieren, das nächste Level zu erreichen.
one: Kann betriebliches Gesundheitsmanagement mit einem rein digitalen Angebot funktionieren?
David Matusiewicz: Unsere Beobachtungen zeigen, dass die Nutzungsraten rein digitaler Angebote noch recht gering sind. Vielleicht sind sie ihrer Zeit voraus. Wir alle sehen uns heute einem „information overload“ ausgesetzt. Zahlreiche E-Mails, digitale Angebote und Services prasseln täglich auf uns ein. Im Gesundheitsmanagement scheint die Kombination aus analog und digital aktuell das Erfolgsrezept zu sein: Veranstaltungen und Workshops von Angesicht zu Angesicht wechseln sich ab mit digitalen Phasen, in denen jeder für sich arbeitet.
one: Wie können Unternehmen Mitarbeiter aktivieren, die Angebote tatsächlich zu nutzen?
David Matusiewicz: Die Incentivierung reicht von kleinen Geschenken zum Start bis zu monetären Modellen, bei denen Mitarbeiter für das Absolvieren bestimmter Übungen virtuelle Coins erhalten, die sie dann zum Beispiel in Einkaufsgutscheine umwandeln können. Damit bekommen Sie auch die weniger intrinsisch motivierten Kollegen in Bewegung. Für die anderen ist Gamification interessant: Kollegen treten spielerisch gegeneinander an, vergleichen sich mit anderen. Eine Community kann auch entstehen, wenn verschiedene Standorte gegeneinander antreten. Oder das Unternehmen setzt sich als Gesamtkonzern ein gemeinsames Ziel, das es zu erreichen gilt und macht alle Mitarbeiter zum Teil dieser Herausforderung.
one: Welche Rolle spielt BGM beim Arbeitgebermarketing und beim Recruiting?
David Matusiewicz: Es ist kein Kann mehr, sondern ein Muss. Der Fachkräftemangel und die gestiegenen Ansprüche von Mitarbeitern an ihr Unternehmen machen es fast schon unerlässlich, diese Angebote zu machen. Die Arbeitnehmer fragen heute ja nicht nur nach dem Gehalt, sondern welches Gesamtpaket ihnen ein Unternehmen bietet. Hier spielt Corporate Health Management eine tragende Rolle. BGM ist ein strategischer Erfolgsfaktor bei der Mitarbeiterfindung und -bindung.
one: Kurzer Ausblick: Wie geht’s beim Thema Gesundheitsmanagement in den nächsten Jahren weiter?
David Matusiewicz: Wenn Sie die Entwicklung mit der Besteigung eines Bergs vergleichen, sagen wir mit einem Achttausender, sind wir gerade bei Höhenmeter 50. Vor uns liegt noch ein riesiges Potenzial. Die Selbstvermessung und die Optimierung des eigenen Körpers ist eine neue Säule im Gesundheitssystem, die mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Das „quantified self“ hat letztlich zum Ziel, durch die Erhebung von Daten die eigene Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Mit dem Smartphone kann heute jeder zahlreiche Gesundheitsdaten erfassen. All die Gadgets und Sensoren werden immer günstiger und allgegenwärtiger. Vielleicht nutzen sogar Gesunde in naher Zukunft Wearables oder tragen Sensoren gar unter Haut, um Körper und Geist über das normale Maß hinaus zu optimieren. Wir verlagern unseren Glauben nicht mehr auf andere, auf einen Gott, sondern konzentrieren uns auf uns selbst und unsere Optimierung, die wir in die eigenen Hände nehmen. Manche sagen: Gesundheit wird die neue Religion.
one: Was bedeutet das für Arbeitgeber und ihr betriebliches Gesundheitsmanagement?
David Matusiewicz: Das Zukunftsmodell des Arbeitgebers ist die „Caring Company“: Das Unternehmen rückt immer näher an die Grenze des Privatlebens. Es kümmert sich um die Mitarbeiter. Im Wettbewerb um die besten Köpfe ist BGM ein elementarer Teil des Care-Pakets, das dem Mitarbeiter das Gefühl gibt: Mein Arbeitgeber sieht mich nicht nur als reine Arbeitskraft, sondern als Mensch und sorgt für mich auf zahlreichen Ebenen.
Prof. Dr. David Matusiewicz ist Professor für Medizinmanagement an der privaten FOM Hochschule, Standort Essen.
Seit 2015 verantwortet er als Dekan den Hochschulbereich Gesundheit & Soziales und leitet als Direktor das Forschungsinstitut für Gesundheit & Soziales (ifgs).