Haiti versinkt weiter im Chaos. Das politische Vakuum füllen bewaffnete Banden, die gegeneinander und gegen den Staat kämpfen – vor allem aber gegen die Menschen des bitterarmen Landes. Vertreibung, Gewalt, Hunger und geschlossene Bildungseinrichtungen treffen am härtesten natürlich die schwächsten Gruppen: Kinder und Jugendliche. Wie es den von der REWE Group und ihren Mitarbeitenden unterstützten Kinderhilfsprojekten geht, hat one den Leiter der Kindernothilfe Haiti, Pierre-Hugue Augustin, gefragt.
one: Hugue, wie beurteilst du die aktuelle Sicherheitslage in Port-au-Prince?
Pierre-Hugue Augustin: Seit Anfang März ist das Land im Chaos versunken: angefangen von der Flucht von Tausenden von Gefängnisinsassen bis hin zu Angriffen, Bränden, Plünderungen und der Einnahme zahlreicher Polizeistationen, die derzeit von den bewaffneten Banden kontrolliert werden, die seit vielen Monaten Haitis Hauptstadt Port-au-Prince im Würgegriff haben.
Ein Zusammenschluss aus stark bewaffneten Banden hat weite Teile der Hauptstadt unter seine Kontrolle gebracht. Sie drangen in Polizeistationen ein, ermordeten Polizisten an ihrem Arbeitsplatz, legten Brände und übernahmen die Kontrolle über mehrere Polizeistationen in verschiedenen Stadtteilen. Neben den Polizeistationen griffen sie auch einige Banken und Handelsunternehmen an.
Pierre-Hugue Augustin
one: Wie wirkt sich das auf die Bevölkerung aus?
Pierre-Hugue Augustin: Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden allein im Januar 2024 über 1.100 Menschen getötet, verletzt oder entführt, darunter waren auch 300 getötete oder verletzte Bandenmitglieder. Die Lage hat gravierende Folgen für alle: Der Trinkwassermangel verschärft sich, da die meisten Wohnviertel für die Lieferwagen nicht mehr passierbar sind. Apotheken und Krankenhäusern haben kaum noch Medikamente, Hygieneartikel oder Verbandsmaterial. Aufgrund der Schließungen von Häfen und Flughäfen gibt es keine Lieferungen mehr. Händler können ihre Waren nicht mehr verkaufen. Die Telefonnetze sind in weiten Teilen des Landes gestört. Viele Menschen hungern.
Zudem haben die Angriffe zu massiven Vertreibungen aus der Großregion Port-au-Prince geführt, das Land zählte Anfang März insgesamt 362.000 Binnenvertriebene, mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. Die überwiegende Mehrheit dieser Vertriebenen sucht Zuflucht in Schulen. Seit Anfang März sind fast alle Schulen geschlossen.
Seit vergangener Woche gibt es verstärkt Angriffe bewaffneter Banden auf Schulen und Bildungseinrichtungen. Unsere Projektschulen sind bislang jedoch nicht betroffen. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten wird immer schwieriger. Die meisten Krankenhäuser in Port-au-Prince sind geschlossen, nur noch drei können stark eingeschränkt arbeiten. Der Flughafen von Port-au-Prince ist geschlossen und wird von Gangs beschossen.
one: Geschlossene Schulen bedeuten, dass die Kinder nicht unterrichtet werden...
Pierre-Hugue Augustin: Genau. Die Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Das ist aber nicht die einzige Auswirkung der katastrophalen Situation im Land. Viele Kinder sind traumatisiert und psychisch destabilisiert durch die Gewalt, der sie täglich ausgesetzt werden, dazu gehört auch sexuelle Gewalt. Zudem werden Familien auseinandergerissen, und nicht zuletzt sind die im Wachstum befindlichen Kinder mangel- und fehlernährt. Sie haben so gut wie immer Hunger.
one: Wie beeinflusst dies die Projekte der Kindernothilfe und ihrer lokalen Partnerorganisationen?
Pierre-Hugue Augustin: Alle Projekte und lokalen Partner haben mit massiven Problemen zu kämpfen: Die Schulen sind geschlossen, Hybridunterricht funktioniert oft nicht, da die Kommunikationsnetze immer wieder durch Sabotage gestört werden; Kinder, die aus ihren Vierteln vertrieben wurden, mussten den Schulbesuch abbrechen. Die Versorgung mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, Hygiene- und medizinischen Produkten ist schwierig, und die Preise steigen massiv an.
„Das Collège Verena bleibt geschlossen, denn die Lage im Stadtteil ist extrem gefährlich.“Hugue Augustin Trotz dieser enormen Herausforderungen setzen unsere lokalen Partner alles daran, die Projektarbeit für gefährdete Gruppen von Kindern und Frauen fortzusetzen. Sie zeigen angesichts der schwierigen Bedingungen eine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit.
Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau und stehen in ständigem Austausch mit allen Projekten um zu ermitteln, ob und wie wir die Kinder und ihre Familien unterstützen können, zum Beispiel durch psychologische Angebote oder mit Lebensmitteln.
one: Und wie schaut es ganz konkret in den Kinderhilfsprojekten aus, die wir und unsere Mitarbeitenden unterstützt haben und immer noch unterstützen?
Pierre-Hugue Augustin: Das Collège Verena bleibt geschlossen und es kann kein Unterricht stattfinden, denn die Lage im Stadtviertel ist extrem gefährlich. Meine Kolleg:innen und ich haben uns sehr über die positive Nachricht gefreut, dass die REWE Group für die Kinder des Collège Verena die Wiederbeschaffung der zerstörten Schulmaterialien ermöglicht. Doch aufgrund der derzeitigen Gewalt-Eskalation haben auch alle Händler und Geschäfte geschlossen, so dass eine Materialbeschaffung und Verteilung derzeit nicht möglich ist. Sie hören von uns, sobald es hier Neuigkeiten gibt.
Die Schützende Schule kann etwas aufatmen. Der Schulbetrieb wurde in der Woche vor Ostern wieder aufgenommen
Für das Stipendienprojekt mussten weitgehend alle Aktivitäten unterbrochen werden, da die Berufsbildungszentren und Universitäten in der Hauptstadt geschlossen sind. Rund 20 Stipendiat:innen verschiedener Fachrichtungen können zumindest an Fernkursen teilnehmen, die das Ausbildungsinstitut Haiti Tec ermöglicht.
Zusätzlich zu den Jugendlichen, die in der Woche zuvor bereits durch die Bandengewalt vertrieben worden waren, mussten diese Woche zehn weitere Stipendiat:innen ihre Häuser verlassen, um bei Verwandten Zuflucht zu suchen. Besonders betroffen hat uns der Tod eines Stipendiaten gemacht. Er geriet auf seinem Heimweg in ein Schussfeuer und starb wenig später im Krankenhaus.
one: Wie furchtbar. In Anbetracht dieser Gefahren: Wie geht es Ihren Kolleg:innen der Kindernothilfe und wie sieht ihr (Arbeits-)Alltag derzeit aus?
Pierre-Hugue Augustin: Die Gewalt und die Unsicherheit wirken sich natürlich auf alle Mitarbeiter:innen aus, die psychische Belastung ist enorm. Trotzdem setzen wir alles daran, unsere Arbeit fortzusetzen und gleichzeitig in ständiger Alarmbereitschaft zu bleiben. Bisher hatten wir noch keine größeren Sicherheitsprobleme in unserem Kindernothilfe-Büro, das sich in einem Viertel befindet, das bislang von bewaffneten Banden verschont geblieben ist. Wir prüfen dennoch täglich die Sicherheitslage und passen unsere Aktivitäten den Umständen entsprechend an. Die derzeitige Gewalteskalation hat dazu geführt, dass zwei Mitarbeiter:innen aus ihren Häusern vertrieben wurden, da ihre Wohngebiete von bewaffneten Gruppen überfallen wurden. Ihre Häuser wurden geplündert und niedergebrannt. Zwei Kolleg:innen haben das Land endgültig verlassen, um die Sicherheit ihrer Familien zu gewährleisten.
Diese Abgänge sind schmerzhaft und unterstreichen die enormen Herausforderungen, denen wir als Organisation in einem derart instabilen und gefährlichen Umfeld gegenüberstehen. Wir sind jedoch entschlossen, unsere Arbeit fortzusetzen und die Sicherheit unseres verbleibenden Teams und ihrer Familien so gut wie möglich zu gewährleisten.
Sie möchten spenden?
Das Stipendienprogramm der Kindernothilfe Haiti ist Teil der Hilfe für Haiti der REWE Group und somit Teil der vier Mitarbeitendenspendenprojekte. Wer eines der Projekte mit einer monatlichen Gehaltsspende von 1, 5 oder 10 Euro unterstützen möchte, kann dies mit Hilfe des Spendenformulars in die Wege leiten.
Mehr Antworten zu wichtigen Fragen zu den vier Mitarbeitendenspendenprojekten finden Sie hier.