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Kinderrechte auf Haiti
„Bildung ist der Weg,
der aus der Armut führt“
Pierre Hugue Augustin im Gespräch mit Bettina Rees
Lesedauer: 6 Minuten
Hoffnungsschimmer für Haiti: Pierre Hugue Augustin, Programmkoordinator und Kindesschutzbeauftragter der Kindernothilfe in Haiti, über minderjährige, unbezahlt arbeitende Hausangestellte mit gigantischem Wissensdurst, Lehrer, die den Rohrstock gegen Gruppenarbeit tauschen und Eltern, die ihre Kinder wieder selbst ernähren können. Und was es für Kinder bedeutet zu erfahren, dass sie Rechte haben.
Pierre Hugue Augustin
one: Herr Augustin, laut UNICEF Haiti werden rund 250.000 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren als Hausangestellte ausgebeutet - oft als „Restavek“ bezeichnete, unbezahlte Hausangestellte ohne die Möglichkeit, die Schule zu besuchen und ohne Zeit zum Spielen. 28.000 Kinder leben in Kinderheimen, mehr als 3.000 sind als Straßenkinder in der Hauptstadt diversen Gefahren ausgesetzt. Was bedeutet für Sie vor diesem Hintergrund „Kindesschutz“?
Pierre Hugue Augustin: „Kindesschutz“ meint alle Maßnahmen, die Kindern ein Umfeld sicherstellen, in dem sie sich entfalten können und zu ihren in der Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Rechten kommen, wie dem Recht auf Bildung und dem Recht auf Schutz gegen Ausbeutung. In diesem Zusammenhang definiert sich Kindesschutz als die Gesamtheit aller Maßnahmen und Strukturen gegen die Gefahren, denen Kinder in schwierigen Lebenssituationen ausgesetzt sein können. Für uns als Kindernothilfe in Haiti bedeutet aktiver Kindesschutz, unsere lokalen Partner, die mit den gefährdeten Kindern arbeiten, zu unterstützen.

one: Wie sieht „Kindesschutz“ konkret in Ihrer Arbeit aus?
Pierre Hugue Augustin: „Kindesschutz“ findet sich in all unseren Projekten, wir engagieren uns tagtäglich für ein Umfeld, das den betroffenen Kindern in ihrer Entwicklung hilft. Wir kämpfen zum Beispiel gegen die Ausbeutung von Kindern, indem wir in ländlichen Gegenden zu verhindern suchen, dass Kinder als „Restavek“ in die Stadt verschickt werden und wir Kindern, die bereits als Hausangestellte arbeiten, Bildungsangebote machen. Zudem engagieren wir uns in der Fortbildung von Lehrern, damit diese aufhören, ihre Schüler mit dem Rohrstock zu züchtigen - eine in Haiti immer noch sehr verbreitete Praxis.
one: Über 70 Prozent der Haitianer gelten als arm, hierin liegt sicherlich eine Ursache für die Ausbeutung von Kindern. Spielt beim Engagement der Kindernothilfe in Haiti die Armutsbekämpfung eine Rolle?  
Pierre Hugue Augustin: In der Tat spielt die Bekämpfung von Armut eine wesentliche Rolle in unseren Projekten mit Kindern. Wir nehmen diesen Kampf mit einer Vielzahl von Bildungsangeboten auf. Denn Bildung ist der Weg, der aus der Armut führt.
Wir unterstützen zum Beispiel ein Projekt in den Bergen. Die Dörfer dort sind abgeschieden und arm, der Zugang ist schwierig, es gibt keine Straßen, keinen Strom, keine öffentlichen Schulen, keine Gesundheitszentren. Das Projekt bildet junge Menschen in den Bereichen Agrarökologie (um die landwirtschaftlichen Erträge von Kleinbauern zu erhöhen) und Handwerk aus. Wir zeigen, wie man Schulgärten für den Anbau von Obst und Gemüse anlegt und Haushaltsartikel wie Stühle oder Strohkörbe fertigt, die sich auf den lokalen Wochenmärkten verkaufen lassen. Zudem erhalten die Eltern Mikrokredite und Ziegen, mit denen sie eine kleine Zucht aufbauen können. Davon profitieren weitere bedürftige Familien, denn an sie wird das erste Zicklein weitergegeben. Dieses Projekt gibt den Eltern die Chance, ihre Kinder nicht als Hausangestellte in die Stadt schicken zu müssen. Und es ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, sich in ihrer Heimat ein besseres Leben aufzubauen. Das alles wirkt Landflucht und Perspektivlosigkeit in den Städten entgegen. one: Sie koordinieren die Programme der Kindernothilfe in Haiti. Welche Projekte stehen aktuell im Vordergrund und warum?
Pierre Hugue Augustin: Da sind zum einen unsere Bildungsprojekte, wie das von der REWE Group unterstützte Collège Verena in dem Armenviertel Delmas 2 sowie die pädagogische und schulische Begleitung von Kindern, die als Hausangestellte ausgebeutet werden.
Diese Projekte finden in Vierteln mit großen Problemen, wie Jugendkriminalität und Bandenkriegen, statt.

Das Collège Verena beispielsweise bietet eine Schulausbildung sowie, in so genannten Integrationsklassen, Bildungsangebote für Kinder, die entweder tags als Hausangestellte ausgebeutet werden oder als kleines Kind keine Grundschule besuchen konnten und nun zu groß für den Besuch einer Regelschule sind. Das zweite angesprochene Projekt im Viertel Tokyo bietet neben der sogenannten formellen Bildung auch eine technische Berufsausbildung für die älteren Kinder als Klempner oder Fliesenleger beispielsweise. Diese beiden Projekte in unmittelbarer Nachbarschaft greifen ineinander, damit die Kinder eine umfassende Ausbildung erhalten: Kinder, die die ersten Klassen in Tokyo abgeschlossen haben, können dann am Collège Verena eine klassische Schulausbildung fortsetzen. Umgekehrt können Kinder des Collège Verena durch das Projekt in Tokyo eine technische und berufliche Ausbildung absolvieren.

Ein anderes Projekt engagiert sich in den Vororten der Hauptstadt für benachteiligte Kinder, wie Straßenkinder, Restavek, Waisen. Die Kinder werden zum Beispiel in einem Handwerk, in Hauswirtschaft oder Schneiderei ausgebildet, um sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Es kommt vor, dass die Handwerksazubis im Auftrag örtlicher Einzelhändler bestimmte Artikel fertigen. Die Projektteilnehmer erhalten zudem Schulungen zu Hygiene und Gesundheit sowie kostenlose Beratungsangebote, als Grundlage für ein gesundes Leben. Gleichzeitig gibt es für die Verantwortlichen einiger Pflegefamilien ein Alphabetisierungsprogramm sowie Weiterbildungen zum Thema Kinderrechte.
Zukunft schaffen mit einer beruflichen Ausbildung
Lernen und Lachen: Schule heißt auch Schutz, Sicherheit und Spaß
one: Die REWE Group unterstützt den Aufbau des Collège Verena. Welche Rolle spielen Bildung und die Qualität der Lehrer für den Kindesschutz?
Pierre Hugue Augustin: Das Recht auf Bildung ist sehr wichtig, denn eine gute Bildung ist wesentlich für die Armutsbekämpfung. Bildung trägt in hohem Maße zum Schutz der Kinder bei, wie diese Beispiele zeigen:
  • Das neue Schulgebäude des Collège Verena, die kürzlich eingeweihte und von der REWE Group unterstützte Grundschule, bietet den Schülern einen geschützten Raum inmitten dieser unruhigen Zeiten und inmitten eines Viertels, das durch bewaffnete Bandenkonflikte geprägt ist. Für die Dauer des Unterrichts fühlen die Kinder sich sicher und geschützt, hier können sie in Ruhe lernen und und ihre Meinung sagen.
  • Bildung vermittelt den Schülern, welche Rechte sie als Kind gemäß der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen haben – und was dies ganz konkret bedeutet angesichts der Gefahren, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind. Die Arbeit mit den Schülern erreicht auch die Eltern, die Lehrer und das direkte Umfeld der Kinder, denn wir organisieren regelmäßig Treffen, bei denen wir alle Beteiligten dafür sensibilisieren, wie man die Kinder besser schützen kann.
Mit Fortbildungen sensibilisieren wir auch die Lehrer für die Bedürfnisse und Besonderheiten jeden Schülers. Dazu gehört zum Beispiel, Kindesmisshandlung, -ausbeutung oder -missbrauch zu erkennen und darauf zu reagieren. Das Konzept „Lebendiges Lernen“ des langjährigen und erfahrenen Kindernothilfe-Partners AMURT bringt den Pädagogen Unterrichtsmethoden wie Gruppenarbeit oder Rollenspiele nahe. Zudem geht es darum, statt des weit verbreiteten, schmerzhaften Rohrstocks gewaltfreie Methoden zu finden, um den Unterricht zu steuern. All das ist für das haitianische Schulsystem ein sehr wichtiger und innovativer Ansatz. aus dem Französischen von Bettina Rees
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