Kinderschutz in Zeiten von Corona: Wie kommen Haitis Kinder gesund und sicher durch Corona? Wie bekommen sie genug Bildung und ausreichend Essen, wenn alles geschlossen ist? Antworten eines Kinderrechtlers.
Die Corona-Pandemie trifft jetzt in Haiti auf Menschen, die seit Jahren mit den Folgen von Erdbeben und Wirbelstürmen kämpfen, deren Alltag von politischen Unruhen und bewaffneten Straßenkämpfen, hoher Inflation und bitterster Armut gezeichnet ist. Das Gesundheitssystem ist marode, das Wohnen beengt, fließendes Wasser für viele ein Luxus. Und wie bei uns gilt: Die Krise trifft vor allem die Schwächsten. In Haiti sind das die Kinder. Die REWE Group unterstützt seit Jahren in Haiti Projekte der Kindernothilfe. one sprach mit deren Koordinator Pierre Hugue Augustin über seine Arbeit in Zeiten von Corona. Hier pulsiert sonst das Leben: Eine der Hauptstraßen im Viertel Delmas 2, Port-au-Prince
one: Monsieur Augustin, herzlichen Dank, dass Sie sich inmitten der Corona-Krise die Zeit für dieses Interview nehmen. Aber zuerst einmal: Wie geht es Ihnen selbst?
Pierre Hugue Augustin: Ich tue mein Bestes, um ausgeglichen zu bleiben und ich arbeite weiterhin, so viel ich kann. Die Corona-Krise hat uns in einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ausnahmesituation getroffen, Haiti war bereits in seinen Grundfesten erschüttert. Aber als leitender Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation werde ich die Hände nicht in den Schoß legen, sondern so gut es geht alle Projekte unterstützen, für die sich die Kindernothilfe Haiti engagiert.
Mein Stresslevel ist aber zugegebenermaßen hoch angesichts der Herausforderungen, die Corona mit sich bringt. Doch ich versuche, optimistisch zu bleiben.
one: Wie geht es Haiti in diesen Tagen?
Pierre Hugue Augustin: Haiti ist ein Krisengebiet. Das war schon vor Covid-19 so. Zu der unglaublichen Armut kommt eine ansteigende, politisch verursachte Instabilität hinzu, die Menschen fühlen sich unsicher. Corona hat diese sozialpolitischen Unsicherheiten nur noch verstärkt.
Wir erleben Inflation und einen Anstieg des Dollarkurses. Die wesentliche Folge: Alltägliche Lebensmittel werden zu Luxusgütern. Die Preise für die Grundnahrungsmittel sind so in die Höhe geschossen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sie sich praktisch nicht mehr leisten kann.
Und das Land verharrt im Ausnahmezustand: Schon vor Corona wurde aufgrund der Unruhen eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, nun kommt noch der Lockdown dazu. Dennoch wollen oder besser können sich die meisten Menschen an diese Maßnahmen nicht halten, die öffentlichen Transportmittel sind genauso überfüllt wie immer, die Menschen immer unterwegs auf der Suche nach bezahlbaren Lebensmitteln. Und der haitianische Staat hat - trotz einzelner Bemühungen - immer noch keinen Plan, wie er die Familien unterstützen kann, damit sie zu Hause bleiben können.
one: Was bedeutet das Ausgangsverbot für das Collège Véréna, wie geht es den Kindern der Schule und ihren Familien. Und wovon leben sie im Moment?
Pierre Hugue Augustin: Das Collège Véréna befindet sich ja in dem sozialen Brennpunktstadtteil Delmas 2, um dessen alleinige Kontrolle bewaffnete Gangs streiten. Selbst mit Corona gibt es keine Waffenruhe zwischen den Banden, die die Viertelbewohner drangsalieren.
Viele Familien leben vom Straßenhandel, sie verkaufen in ihrem Viertel zum Beispiel Speisen oder Kleidung. Corona hat diese Verdienstmöglichkeiten sehr eingeschränkt: Niemand hat mehr Geld. Manche Familien mussten ihre Kinder aufs Land schicken. Nicht nur, um sie vor den Bandenkriegen zu schützen, sondern auch aus Angst, sie könnten in der Hauptstadt an Hunger sterben. Im Collège Véréna wird die Lebensmittelverteilung an die Familien der Schulkinder vorbereitet
Stand: Mittwoch, 17. Juni
Bestätigte Fälle: 4.547 (228 neue Fälle seit 14.6.)*
Todesfälle: 80
Genesende: 24
*) Die Dunkelziffer liegt geschätzt deutlich höher. Quelle: Worldometers.info
Für die meisten Schulkinder, deren Eltern früh morgens arbeiten gingen und erst abends zurückkamen, bot die Schulkantine die einzige Mahlzeit des Tages. Aber nun ist die Schule coronabedingt geschlossen…
Aus diesem Grund verteilt das Collège Véréna nun bestimmte Lebensmittel, wie Mais, Reis, getrocknete Hülsenfrüchte, Öl, Lachs, Hering an bedürftige Kinder, damit sie die Schulschließung eine Zeitlang überstehen können. Darüber hinaus teilt die Schule Masken an die Familien dieser Kinder aus.
Für die Schüler gibt es Home Schooling: Die Lehrer versenden die Arbeitsmaterialien via WhatsApp-Gruppen. Da viele Eltern ihre Kinder bei den Hausaufgaben nicht unterstützen können, erklären die Lehrer den Stoff in Videokonferenzen. Sie nutzen die WhatsApp-Gruppen auch fast wöchentlich, um die Familien über die Pandemie auf dem Laufenden zu halten und für die Maßnahmen zu sensibilisieren.
one: Wie geht es den anderen, von der REWE Group mit unterstützten Projekten der Kindernothilfe? Können Sie sich angesichts der Ausgangsbeschränkungen noch um die kümmern, die auf dem Land liegen?
Pierre Hugue Augustin: Wir halten den Kontakt zu diesen Projekten mit Telefon- und Videokonferenzen. Und die Projekte sind fest in den jeweiligen Kommunen verankert. Selbst wenn die Einrichtungen geschlossen sind, haben die Mitarbeiter Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen, sie bieten Aktivitäten an, sie unterstützen sie und geben alle Corona-relevanten Meldungen weiter. Ein Projekt verteilt nun Lebensmittelrationen an die Familien, hat 20 mobile Handwaschstationen aufgestellt und an rund hundert Familien Eimer mit Wasserhahn ausgeteilt.
Als Kinderrechtsorganisation bleibt unser Augenmerk auch jetzt auf den Kindern. Um zu verhindern, dass sie Opfer häuslicher Gewalt werden, nutzen wir Corona-Informationsveranstaltungen des lokalen Zivilschutzes dazu, für Kinderrechte zu sensibilisieren.
one: Was wird die kommende Zeit für das Land und die Kinder bringen? Wie wird Haiti die Pandemie und ihre politischen und gesundheitlichen Folgen überstehen?
Pierre Hugue Augustin: Diese Pandemie trifft ein Land, dessen gesundheitliche Versorgung ohnehin schlecht funktioniert, es mangelt an medizinischer Infrastruktur und an engagiertem Fachpersonal. Der Aufbau von medizinischen, auf Corona spezialisierten lokalen Anlaufstellen trifft zudem oft auf den Widerstand der Anwohner, die Angst vor Ansteckung haben.
Immerhin liegt 55 Kilometer von der Hauptstadt die größte Klinik Haitis, die weiterhin sehr gute medizinische Versorgung bietet. Aber die Krankenhäuser, die die Covid-19-Patienten versorgen können, sind jetzt schon überlastet. Und wir stehen erst am Anfang einer angekündigten gesundheitspolitischen Katastrophe.
Die Prognosen gehen von Hunderttausenden bestätigten Fällen und Tausenden von Toten aus. Betrachtet man dazu die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, mit den Behörden zu kooperieren, dann ist es wirklich Zeit, sich Sorgen zu machen. Darüber, ob unser Land diese Gesundheitskrise bewältigen kann – und über seine möglicherweise verheerenden Folgen für das öffentliche Leben und die Menschen ganz allgemein. Ungewohnte Leere: Der sonst so belebte Volkspark während der Ausgangssperre
Der Protest gegen Korruption in der Regierung löste seit dem vergangenen Jahr in Haiti heftige Straßenkämpfe aus.
Dank REWE Group-Spenden bietet das Collège Véréna, das in einem besonders umkämpften Viertel der Hauptstadt liegt, den Kindern Schutz und Geborgenheit.
Für viele Kinder wird ein längerer Ausnahmezustand den Zugang zu guter Bildung versperren. Denn nicht alle Kinder kommen mit dem Home Schooling zurecht. Das erfordert ein hohes Engagement der Eltern. Die jedoch müssen derzeit all ihre Kraft darauf verwenden, das Überleben ihrer Familie zu sichern. Zudem ist ihre Schulbildung oft selbst so gering, dass sie kaum helfen können.
Derzeit sind die Kinder den ganzen Tag zu Hause, ohne Schule und ohne elterliche Aufsicht, das setzt sie schutzlos erhöhten Risiken aus. Wenn sich die gesundheitliche Situation im Land noch mehr verschlimmert, wird sich das auch auf das Kindeswohl auswirken.
Wenn sich die gesundheitliche Situation verschärft, werden wir von der Kindernothilfe uns daher darauf konzentrieren, die Familien mit Essen zu versorgen, damit sie ihre Kinder nicht mehr für die Essensbeschaffung alleine lassen müssen.
Nicht zu vergessen: Zusätzlich zur Corona-Krise nähert sich die Zeit der tropischen Wirbelstürme. Sie dauert von Juni bis November. Wie können wir auch noch diese Krise bewältigen und unsere Bevölkerung schützen?
Die Fragen und Antworten dieses Interviews wurden per E-Mail ausgetauscht.
Als echte „Fründe en dr Nut“, wie die Kölner wahre Freunde in Notsituationen nennen, erwiesen sich die REWE Group und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, als in Haiti 2010 die Erde bebte. Seit knapp zehn Jahren begleiten sie als Spender, Unterstützer und Freunde die Zukunftsprojekte, die mit ihrer Hilfe entstanden und entstehen. Diese Freundschaft bildete auch das Fundament für den Bau des Collège Véréna, einer Grund- und weiterführenden Schule in Port-au-Prince, sowie für eine Reihe von weiteren Bildungsprojekten in der Hauptstadt und auf dem Land.
Sie möchten die Projekte von REWE Group und Kindernothilfe in Haiti unterstützen?
Kindernothilfe e. V.
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