Der Lockdown ist beendet, die Infektionszahlen waren niedriger als befürchtet, das von der REWE Group unterstützte Collège Véréna hat seinen Schulbetrieb wieder aufgenommen... Doch das Aufatmen fällt nicht nur wegen der Maskenpflicht schwer: Corona bedingte Arbeitslosigkeit, Wirbelstürme und gewaltbereite Straßenbanden bedrohen Schulkinder und ihre Familien, erzählt der Haiti-Koordinator der Kindernothilfe, Pierre Hugue Augustin, im Interview.
one: Monsieur Augustin, während des Lockdowns haben Sie für Haiti eine Katastrophe prognostiziert. Was ist heute Stand der Dinge?
Pierre Hugue Augustin: Die Fallzahlen sind mit rund 8.500 Infizierten in Haiti tatsächlich wesentlich niedriger als in unserem Nachbarland, der Dominikanischen Republik, wo sie bei über 100.000 liegen. Viele zweifeln aber an diesen Zahlen, die vom haitianischen Staat veröffentlicht werden. Sie glauben, die Statistik stimme nicht, weil es einfach nicht genug Tests gibt. Andere denken, dass sich Corona in Haiti einfach nicht so ausgebreitet hat wie in anderen Ländern.
Die Regierungskommission, die zur Bewältigung der Coronakrise einberufen wurde, bezeichnet Haiti als gut auf die Pandemie vorbereitet. Das Land sei rechtzeitig in den Lockdown gegangen und man habe Behandlungszentren eingerichtet. Man beglückwünscht sich auch zur flächendeckenden Aufklärungskampagne, mit der die Bevölkerung gut verständlich für die Symptome und Präventionsmöglichkeiten sensibilisiert wurde. Es ist schon richtig, dass in allen öffentlichen Gebäuden und Geschäften Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Aber die Mehrheit der Haitianer weigert sich auch weiterhin, an das Virus zu glauben. Zusätzliche Wasserspender am Schuleingang des Collège Véréna
Während des Sommers haben die Leute an zahlreichen kulturellen Veranstaltungen und traditionellen Festlichkeiten teilgenommen. Vor allem die jungen Frauen und Männer feierten, ohne sich über die möglichen gesundheitlichen Folgen Gedanken zu machen. Ein anderes Beispiel: Zu Beginn des Lockdowns respektierten die Anbieter von öffentlichen Transportmöglichkeiten noch die Abstandsregeln und ließen weniger Leute mitfahren. Sehr schnell verstießen sie aber dagegen mit der Begründung, sie würden durch die begrenzte Zahl der Fahrgäste nicht genug Geld verdienen.
Derzeit ist der Lockdown aufgehoben, die öffentlichen Einrichtungen, also auch die Schulen, kehren wieder zur Normalität zurück, mit Maskenpflicht allerdings. Im öffentlichen Raum, in Supermärkten, Schulen, Kirchen kann man sich überall die Hände waschen. Das Gros der Bevölkerung ist aber sorglos und überlässt sein Schicksal dem Zufall oder dem lieben Gott…
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one: Hält die Kindernothilfe Haiti die staatlichen Maßnahmen für ausreichend, um die Risiken für ihre Projekte, insbesondere die Kinder und deren Eltern, klein zu halten?
Pierre Hugue Augustin: Der Staat hat sicher alles, was nötig ist, getan. Die weitreichenden Sensibilisierungskampagnen erreichen einen Gutteil der Bevölkerung. Dennoch bleibt noch viel zu tun, damit die Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden. Die Schulen haben sich nach der Wiederöffnung, so gut es eben ging, selbst mit zusätzlichen Handwaschmöglichkeiten ausgestattet. Mundnasenschutz ist Pflicht, aber für die meisten Familien ist es unmöglich und unerschwinglich, an Masken zu kommen. Und wenn, dann sind sie gezwungen, sie immer wieder zu verwenden. Corona trifft – wie alle Krisen und Katastrophen in Haiti - die Schwächsten, also die Ärmsten und ihre Kinder.
Im Rahmen des Corona-Hygieneplans wurden Wasserspender zum Händewaschen aufgestellt
one: Apropos Katastrophen: Jetzt beginnt in der Karibik die Zeit der tropischen Wirbelstürme, mit „Laura“ zog der erste bereits über das Land. Wie können sich die Menschen gegen das Virus schützen, wenn sie gleichzeitig von Naturkatastrophen bedroht sind?
Pierre Hugue Augustin: Wirbelsturm Laura hat am 23. August 31 Menschen das Leben gekostet, insgesamt wurden fast 9.000 Häuser beschädigt, überschwemmt, zerstört. Haiti befindet sich auf der Reiseroute der tropischen Wirbelstürme, deren Saison nun erst beginnt.
Und obwohl bei jeder Naturkatastrophe immer Menschen sterben und so viele ihr Hab und Gut verlieren: Es ist kein Umdenken zu spüren, was den Umgang damit betrifft. Bis auf einige SMS und Infos in den sozialen Netzwerken gibt es in diesem Land, in dem Elektrizität ein seltener Luxus ist, immer noch nicht genug Frühwarnsysteme für die Bevölkerung. Eine große Zahl der Schäden ist die Folge der anarchischen Bauweise (die Menschen bauen in Flussbetten oder Schluchten), es gibt keine Müllabfuhr und keine Kanalreinigung, wohin Wasser abfließen könnte. Das alles verschlimmert die ohnehin prekäre Lebensweise vieler Haitianer.
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one: In Deutschland startete die Schule vielfach mit Maskenpflicht. Wie hat sich das Collège Véréna auf den Schulstart vorbereitet?
Pierre Hugue Augustin: Mit der Ankündigung, dass die Schulen wieder öffnen, kam auch die Maskenpflicht für Kinder, Lehrer, Eltern und alle anderen, die sich im Schulgebäude aufhalten. Das Collège hat zudem einen genauen Hygieneplan erarbeitet. Dazu gehören unter anderem die Aufteilung der Klassen in zwei Gruppen, Verzicht auf bestimmte Schulaktivitäten, wie das gemeinsame Morgengebet auf dem Schulhof, die Aufstellung von Wasserspendern zum Händewaschen vor jedem Klassenraum und am Schuleingang, sorgfältige Kontrolle der Schulküchenabläufe…
Am ersten Schultag haben wir Stoffmasken an die Schulkinder verteilt. Einige kamen dann doch ohne in die Schule, die Familien hatten sie einbehalten in der Hoffnung, die Schule würde weitere Masken verteilen.
Durch Corona haben viele Menschen ihre Arbeit verloren. Wenn sie durch einen Wirbelsturm nun auch noch das Dach über dem Kopf verlieren, wird es finanziell so gut wie unmöglich, ein neues Heim zu bauen oder zu finden. Leider gibt es aktuell weder Akuthilfe zugunsten der Wirbelsturmopfer noch Präventionsmaßnahmen vor dem nächsten Sturm, der kommen wird.
one: Wie sicher ist es jetzt in der Schule und im Stadtteil?
Pierre Hugue Augustin: Bislang gibt es im Collège Véréna noch keinen einzigen Corona-Fall. Dennoch ist in unserem Viertel Delmas 2 ein Gefühl von Unsicherheit allgegenwärtig, das über die Pandemie hinausgeht. Seit dem Schulstart am 10. August musste die Schule bereits vier Mal schließen wegen der seit Monaten schwelenden, blutigen Straßenfehden zwischen rivalisierenden Stadtteilbanden. Beim letzten Angriff in einem Nachbarviertel musste die Familie eines Schulkindes mitansehen, wie ihr Haus von einer bewaffneten Gruppe angezündet wurde. Alles, was sie besaßen, darunter auch die Schuluniform und alle Schulsachen, gingen in Flammen auf. Auf ihrem Schulweg werden die Kinder weiterhin von Angst und Schrecken begleitet. Davor schützt keine Maske.
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