Lebensmittel kosten so viel, wie auf dem Preisschild steht? Von wegen. Die Wissenschaftler Tobias Gaugler und Amelie Michalke haben nachgewiesen, dass an der Ladenkasse sehr viel höhere Beträge fällig wären, wenn auch die ökologischen Kosten entlang der Lieferkette berücksichtigt würden.
one: Wer gefragt wird, was ein Apfel oder ein Liter Milch kostet, könnte es sich einfach machen und auf das Preisschild verweisen. Tatsächlich sind die Kosten jedoch sehr viel höher, wie Sie in Ihrer Untersuchung nachgewiesen haben. Warum ist das so?
Tobias Gaugler: Mit der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse gehen immer auch Belastungen für die Umwelt einher, etwa durch Stickstoffe, Treibhausgase oder auch Energieerzeugung. Solche versteckten Kosten zahlen wir nicht unmittelbar an der Ladenkasse, sondern mit Verzögerung in Form von Klimaschäden oder verunreinigtem Wasser. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Unter Berücksichtigung aller Kosten müssten Lebensmittel sehr viel teurer sein als dies aktuell der Fall ist.
Tobias Gaugler
one: Die Problematik ist nicht neu. Studien insbesondere in Großbritannien haben schon vor 20 Jahren auf das Dilemma der „True costs“ hingewiesen.
Tobias Gaugler: Ja, aber richtig vorangetrieben wurde das Thema lange Zeit nicht. Nun aber duldet die Sache keinen Aufschub mehr. Inzwischen gibt es in der Bevölkerung eine hohe Sensibilität für Umweltthemen. Die gilt es zu nutzen und auf das Phänomen der Preisdifferenz zwischen aktuellen Preisen und wahren Kosten aufmerksam zu machen. Unser Ansatz an der Universität Augsburg lautet: Wir möchten die hohe Expertise, die wir uns in den vergangenen Jahren auf diesem Feld erarbeitet haben, weiter ausbauen und gleichzeitig das Thema aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft herausholen. Denn entscheidend ist, wie der Kunde darüber denkt und ob er sein Verhalten möglicherweise anpasst, wenn er mehr über dieses Thema weiß.
one: Für das Projekt mit PENNY haben Sie acht ausgesuchte Eigenmarken-Produkte aus biologischer und konventioneller Erzeugung einer Vollkostenbetrachtung unterzogen. Lassen sich tatsächlich sämtliche versteckten Kosten mit hoher Treffergenauigkeit quantifizieren?
Amelie Michalke
Amelie Michalke: Wir haben vier sehr wesentliche Parameter herausgegriffen und ihren Einfluss auf einen nachhaltigeren Preis berechnet: Stickstoff, Klimagase, Energie und Landnutzungsänderungen. Tatsächlich gibt es weitere Einflussfaktoren, die in eine Vollkostenberechnung eingehen müssten, insbesondere wenn es um konventionell erzeugte Lebensmittel geht. Denken Sie zum Beispiel an den Aspekt des Tierwohls oder auch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Um deren Einfluss zu quantifizieren, fehlt uns aber die entsprechende Datenbasis. Wir haben uns auf die vier genannten Parameter beschränkt, weil sie maßgeblichen Einfluss haben und weil es dazu belastbares Datenmaterial gibt. Bei Berücksichtigung sämtlicher umweltbelastender Faktoren wäre das Delta zwischen Marktpreis und tatsächlichen Kosten noch sehr viel größer als von uns ermittelt.
Tobias Gaugler: Die von uns berücksichtigten Umweltbelastungen betrachten wir als Untergrenze. Sie sind nur ein Teil der Wahrheit. Trotzdem ist es uns wichtig, sie zu quantifizieren und nicht weiter so zu tun, als spiegelten die aktuellen Marktpreise die tatsächlichen Kosten von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wider. Wenn Verbraucher an der Ladenkasse die wahren Kosten bezahlen müssten, wäre die Produkte in vielen Fällen erheblich teurer.
one: Bei welchen Produkten würden besonders hohe Preisaufschläge fällig, weil ihre Erzeugung mit außergewöhnlichen ökologischen Belastungen verbunden ist?
Amelie Michalke: Bei tierischen Erzeugnisen aus konventioneller Produktion. Für sie müsste der Verkaufspreis nach unseren Berechnungen um 173 Prozent höher sein. Bei Bio-Fleisch wäre ein Aufschlag von 126 Prozent notwendig, um einen Großteil der Umweltbelastungen auszugleichen. Der größte Anteil der Preisaufschläge ist auf den Treiber Stickstoff zurückzuführen, gefolgt von Treibhausgasen und Energie. Auch Milchprodukte müssten deutlich teurer sein. Für Gouda-Käse beispielsweise haben wir einen notwendigen Aufschlag von 88 Prozent errechnet; in der Bio-Variante müsste das Plus 33 Prozent betragen.
one: Wer muss Ihrer Meinung nach vorangehen, um eine solch krasse Fehlbepreisung von landwirtschaftlichen Gütern zu korrigieren? Die Politik, die Erzeuger, der Handel oder der Verbraucher?
Tobias Gaugler: Alle Beteiligten tragen Verantwortung. Gerade das ist das Dilemma. So kann jeder auf andere zeigen und fordern: Geh Du voran! Große Händler haben aus kartellrechtlichen Gründen sicher nur begrenzte Möglichkeiten. Es wäre gesetzeswidrig, wenn sie sich darauf verständigten, die Preise entsprechend anzuheben. Ich sehe vor allem die Politik in der Verantwortung – und zwar zeitnah und nicht erst, wenn hohe ökologische Folgekosten entstanden sind.
one: Also zum Beispiel durch die Erhebung einer Fleischsteuer?
Tobias Gaugler: Als Wissenschaftler sind wir nicht in der Rolle, Handlungsempfehlungen zu geben. Wir liefern Daten, die hoffentlich zum Nachdenken anregen und aus denen dann andere ihre Schlüsse ziehen müssen.
Amelie Michalke: Unsere Studie sorgt für Transparenz. Und die Initiative von PENNY, in ihrem neuen Berliner Markt zusätzlich die wahren Kosten auf das Preisschild zu setzen, bringt das Thema in den Alltag der Menschen. Sie erhalten Informationen, um eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen.
one: Wagen Sie eine Prognose? Wie werden die Kunden reagieren?
Tobias Gaugler: Als Wissenschaftler hoffe ich, dass es zu nachweisbaren Veränderungen der Nachfrage kommen wird. Aber wir sollten nicht zu viel erwarten. Wichtig ist vor allem die Aufmerksamkeit, die das Thema durch das Projekt gewinnt – bei Verbrauchern, Medien und der allgemeinen Öffentlichkeit. Davon wird auch die weitere Forschung profitieren.
one: Lassen sich mit der gleichen Logik, mit der Sie die ökologischen Folgekosten für ausgesuchte Lebensmittel berechnet haben, auch die wahren Kosten für andere Produkte und vielleicht auch Dienstleistungen ermitteln?
Amelie Michalke: Natürlich! Das wäre auch sehr wünschenswert, denn so erhielten Verbraucher eine Anleitung, wie sie ihren ökologischen Fußabdruck verkleinern können….
Tobias Gaugler: …und sie kämen vielleicht zu der Erkenntnis, dass sie mit ihrer Konsumentscheidung eine Menge bewirken können, vielleicht sogar mehr als mit ihrem Wahlzettel. Denn wo man sein Geld hingibt, da wächst etwas. Ich würde mir wünschen, dass mehr Verbraucher sich dieser Macht und Verantwortung bewusst werden.