Genossenschaften stehen als Gegenmodell zum Kapitalismus für gemeinsame Werte. Doch schnelle Entscheidungen sind nicht ihr Ding. Warum das nachhaltiger und demokratischer ist, erklärt Genossenschaftsexperte Dr. Johannes Blome-Drees.
Johannes Blome-Drees beim one_Interview in seinem Büro in Köln (Fotos: Achim Bachhausen)
one: Genossenschaften wurden lange Zeit häufig mit Adjektiven wie altbacken, schwerfällig oder überholt tituliert. Davon ist heute nur noch selten die Rede. Jetzt heißt es mitunter sogar, die Genossenschaft sei ein sehr modernes Unternehmenskonzept. Was ist da passiert?
Johannes Blome-Drees: Tatsächlich erlebt das Modell der Genossenschaft eine Renaissance. Seit 2001 ist die Zahl der Neugründungen enorm gestiegen. Allein in den vergangenen fünf Jahren sind etwa 1.000 Genossenschaften neu an den Start gegangen. Das zeigt, dass Genossenschaften für aktuelle Probleme ein großes Lösungspotenzial bieten.
one: Woher rührt diese neue Begeisterung?
Johannes Blome-Drees: Der Blick zurück zeigt, dass Genossenschaften immer dann en vogue sind, wenn der Markt als Steuerungsinstrument versagt hat…
one: …so wie zuletzt in der Finanzkrise 2007…
Johannes Blome-Drees: Richtig. In solchen Phasen hat man sich in der Vergangenheit immer gerne daran erinnert, dass es neben Markt und Staat noch ein anderes Ordnungsprinzip gibt, das Prinzip der freiwilligen Vereinbarung. Dafür stehen Genossenschaften. Sie sind demokratisch, uneigennützig, regional verwurzelt und handeln risikobewusst. Anders gesagt: Sie sind Gegenmodelle zu kapitalistisch ausgerichteten Unternehmen.
one: Diese Vorzüge gerieten in der Vergangenheit schnell wieder in Vergessenheit, sobald es mit der Konjunktur aufwärts ging. Ist das diesmal anders?
Johannes Blome-Drees: Ich denke ja. Zum einen sitzt der Schock der Finanzkrise sehr tief. Zum anderen erleben wir derzeit auf vielen Feldern einen Wandel, der die genossenschaftliche Idee befördert. Zum Beispiel in der Regionalentwicklung: Wenn Schwimmbäder schließen, Bildungsangebote gekappt werden oder dörfliche Strukturen bedroht sind, weil sich Unternehmen aus der Fläche zurückziehen, greifen viele Menschen zur genossenschaftlichen Selbsthilfe. Hinzu kommt, dass sich Wertvorstellungen geändert haben, vor allem bei jungen Leuten. Wenn es zum Beispiel um Klimaschutz geht, sind genossenschaftliche Lösungen möglicherweise zielführender als andere Modelle.
one: Warum sollten Unternehmen die Rechtsform einer Genossenschaft wählen?
Johannes Blome-Drees: Weil genossenschaftliche Verbundgruppen zwei Dinge geradezu idealtypisch miteinander verbinden: Markt und Hierarchie. Eine starke Zentrale managt Dinge, die für alle Mitglieder existentiell sind, etwa den Einkauf oder das Marketing. Und die von diesen Aufgaben entlasteten, wirtschaftlich selbstständigen Mitglieder agieren vor Ort eigenständig und das meist sehr viel effektiver als ein klassisches Filialunternehmen – was wiederum die Arbeit der Zentrale stärkt.
one: REWE und Edeka, die beiden führenden Lebensmittelhändler in Deutschland, sind genossenschaftlich organisiert. Zufall? Oder ist das der Beweis, dass Genossen Lebensmittelhandel besser können als andere?
Johannes Blome-Drees: Nein, Lebensmittelhandel funktioniert nicht nur in genossenschaftlichen Gebilden. Aber es ist wiederum auch kein Zufall, dass REWE und Edeka eine so starke Position einnehmen. Sie verstehen es, die Vorzüge dieser hybriden Organisationsform auszuspielen: Sie nutzen das Wissen und die Flexibilität der Kaufleute vor Ort und binden sie in die Entscheidungsfindung mit ein.
one: Das ist nicht immer einfach. Es kostet Zeit, viele Stimmen zu hören und zu moderieren, ehe eine Entscheidung getroffen wird. In Konzernen in der Rechtsform einer AG kann das Management Dinge sehr viel schneller umsetzen.
Johannes Blome-Drees: Genossenschaften sind keine Sprinter, wenn es um Entscheidungsfindung geht. Aber sie treffen Entscheidungen möglicherweise gründlicher und nachhaltiger, weil sie ihre nahe am Markt agierenden Mitglieder an der Willensbildung beteiligen. Das führt zu einer höheren Identifikation, fördert die Loyalität und stärkt das Vertrauen. Wer die Basis befragt, ehe er entscheidet, hat eine größere Chance Lösungen zu finden, die vor Ort helfen.
one: Auf der anderen Seite kann der Wunsch alle mitzunehmen eine Organisation manchmal auch lähmen.
Johannes Blome-Drees: Genau das ist die Herausforderung! Eine genossenschaftliche Organisation braucht Arenen der Auseinandersetzung, in der man argumentativ zu einem Konsens kommt. Unternehmen, die eine solche Kultur etablieren, sind häufig sehr viel schlagkräftiger als Mitbewerber, die mit Befehl und Gehorsam agieren.
one: Wie schafft es das Management einer Genossenschaft, die Begeisterung der Mitglieder wachzuhalten?
Johannes Blome-Drees: Nehmen wir die Generalversammlung: Wer nur die Regularien runterspult und Zahlenkolonnen vorträgt, wird bei den Zuhörern keine Leidenschaft wecken. Wer dagegen aus dem Treffen ein Event macht und aufzeigt, was die Zentrale für die Mitglieder leistet, macht gute Werbung für die genossenschaftliche Idee. Allgemeiner gesagt: Wir brauchen Unternehmer, die sich zu genossenschaftlichen Idealen bekennen und auch danach handeln. Führungskräfte, die es ernst meinen. Hier gibt es nach meiner Beobachtung Nachholbedarf.
one: Ein Beispiel bitte.
Johannes Blome-Drees: Der genossenschaftliche Bankenbereich hat über Jahrzehnte deutlich an genossenschaftlichem Profil verloren. Manche Institute haben sogar das „eG“ aus der Firmierung gestrichen, weil sie nicht als Genossenschaft wahrgenommen werden wollten. Geändert hat sich das erst mit der Finanzkrise. Da war es plötzlich sehr angesagt, anders zu sein als andere Banken.
one: Das unterstreicht die These, Genossenschaften seien Krisengewinnler.
Johannes Blome-Drees: Ja, Genossenschaften profitieren von wirtschafts- und sozialpolitischen Sinnkrisen. Als Rechts- und Wirtschaftsform sind sie prädestiniert, geeignete Antworten zu organisieren. Aber ohne äußere Krisen geraten Genossenschaften schnell wieder in Vergessenheit. Viel wäre daher gewonnen, wenn mehr Menschen wüssten, wie Genossenschaften funktionieren. Wer heute ein Unternehmen in der Rechtsform einer eG gründet, macht das aus eigenem Antrieb und nicht, weil ihm ein Berater zu diesem Rechtskleid geraten hat. Wir beklagen seit Jahren, dass junge Menschen in Schulen und an Universitäten nur wenig über Genossenschaften lernen. Aber es passiert nichts. Weder der Staat noch die Genossenschaftsorganisation investieren ausreichend Mittel in das Thema der genossenschaftlichen Bildung. Alle Hochschullehrer, die Vorlesungen über Genossenschaftswesen abhalten, betreiben das als Nebenfach, quasi ehrenamtlich.
Zur Person: Dr. Johannes Blome-Drees
Dr. Johannes Blome-Drees hat nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann bei einem genossenschaftlichen Kreditinstitut an der Universität zu Köln Betriebswirtschaftslehre studiert. Dr. Johannes Blome-Drees Sein Wahlfach hieß Genossenschaftswesen. Bereits als Student gründete er gemeinsam mit Kommilitonen eine Aktiengesellschaft, die seit langem auch börsengehandelt ist. Die Gründung einer Genossenschaft indes steht noch aus. Immerhin hat er die ersten Schritte der viel beachteten Kölner Trink-Genossenschaft begleitet.