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Food Waste entlang der Lieferkette

„Die ganze Welt liegt mit auf dem Teller“
ein Gastbeitrag von Lars Fischer
Riesige Mengen Nahrungsmittel landen nicht auf unseren Tellern. Doch warum ist das so, und lässt sich das wirklich vermeiden? Wissenschaftsjournalist Lars Fischer wollte es genauer wissen und hat die gesamte Food Supply Chain unter die Lupe genommen. In seinem Gastbeitrag erklärt er, warum das Problem komplexer ist als gedacht – und globaler. „Unser Essen kommt nicht direkt vom Feld in unsere Töpfe, sondern durchläuft eine Folge von Stationen, die Lebensmittel zu dem machen, was sie heute sind: Eine leicht zugängliche, sichere und vielfältige Ware. Der Verlust beträchtlicher Mengen Nahrung ist der Preis dafür. Das ist ein Teil der Antwort.
Die Food Supply Chain
Das System, das die Lebensmittel zu uns bringt – die Food Supply Chain – besteht aus fünf Segmenten: Ernte, Transport und Lagerung, Verarbeitung, Handel, Verbrauch. Auf jeder Stufe gibt es verschiedene Arten von Verlusten. Zusätzlich brauchen wir einen gewissen Überschuss an Lebensmitteln, um Schwankungen abzupuffern.

In den Industrieländern sind Handel und Endverbraucher für den größten Teil der verlorenen Lebensmittel verantwortlich. Verluste auf diesen beiden letzten Stufen bezeichnet man im engeren Sinne als Lebensmittelverschwendung (food waste).
In Deutschland erfasste eine lesenswerte Untersuchung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz aus dem Jahr 2011 (BmELV) diesen Bereich. Demnach gehen hier pro Jahr 8,8 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Müll, davon entfallen auf Privathaushalte 61 Prozent (etwas über 80 Kilogramm pro Person) und den Einzelhandel etwa 5 Prozent. Der Rest fällt in der Gastronomie und Industrie an.

In ärmeren Ländern dagegen sind es meist die Tücken der oft unzulänglichen Technik und Organisation in Ernte, Nachernte und Verarbeitung, durch die Nahrung unbrauchbar wird. Diesen Schwund in den ersten drei Stufen der Verwertung nennt man Lebensmittelverlust (food loss).
Globale Unterschiede
Ich bin mit dem Begriff „Lebensmittelverschwendung“ nicht glücklich, weil es auch hier meist rationale und nachvollziehbare Gründe sind, aus denen wir noch genießbare Nahrung wegwerfen. Außerdem ist bei näherer Betrachtung nicht eindeutig, was wir gewinnen, wenn wir diese Verluste wirklich reduzieren.

Ich halte nicht viel von Rechenspielchen nach dem Motto: Wenn wir in Europa nur noch die Hälfte wegwerfen, dann können davon soundso viele Hungernde irgendwo in anderen Weltgegenden leben. Die Sachen, die wir dann nicht wegwerfen, füllen nicht plötzlich die Mägen von Hungernden, und die geringere Nachfrage heißt nicht automatisch, dass das überschüssige Ackerland nicht mehr bewirtschaftet wird. Kurz gesagt, es ist kompliziert.

Zurück zur ursprünglichen Frage: Einen brauchbaren globalen Überblick über das Problem bietet die 2011 von der FAO in Auftrag gegebene Übersicht von Jenny Gustavsson und ihrer Arbeitsgruppe. Die meisten neueren Studien beziehen sich darauf, aber das ändert nichts daran, dass auch ihre Daten besonders außerhalb der Industrieländer sehr lückenhaft sind. Sicher ist aber, dass immens viel verloren geht. In den USA werfen Haushalte und Gastronomie allein 42 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weg, in Deutschland wandern in dem Sektor etwa acht Millionen Tonnen Lebensmittel in den Müll.

Global sieht man einen deutlichen Unterschied zwischen Arm und Reich. In den Industrieländern sind die meisten Verluste einkalkuliert: Sie sind entweder unvermeidbar oder sie zu vermeiden kollidiert mit höheren Prioritäten wie Wirtschaftlichkeit oder Ästhetik. In vielen ärmeren Ländern gehen Verluste vor allem auf ungünstige Rahmenbedingungen zurück, zum Beispiel schlechte Infrastruktur oder fehlende Technisierung.

Verarbeitung: Wo gehobelt wird, fallen Späne
Bei der Verarbeitung nimmt man gewisse Verluste in Kauf. Es lohnt sich oft nicht, bei Verarbeitung und Portionierung anfallende Reste – zum Beispiel beim Zuschnitt von Fleisch – einzusammeln und weiterzuverwenden, weil der Anteil dieses Ausschusses so gering ist. In Deutschland sind das je nach Produktgrupe Zehntelprozent oder auch mal zwei, drei Prozent der Gesamtmenge der verarbeiteten Produkte. Die BmELV-Studie nennt eine Gesamtsumme von 1,85 Millionen Tonnen im Jahr.

Genauso ist es mit Lebensmitteln, die durch Produktionsfehler falsch portioniert oder verpackt sind. Auch hier ist der zusätzliche Aufwand, diese Nahrungsmittel noch zu verwerten, zu groß. Allein ein Drittel der Lebensmittelverluste in der deutschen Industrie geht jedoch nicht auf Fehler zurück, sondern auf so genannte Rückstellmuster zur Qualitätssicherung. Man hält einen Teil der Produktion zurück und guckt, ob sie den Standards entsprechen, ob sie bis zum Mindesthaltbarkeitsdatum frisch bleiben und dergleichen.

In den weniger industrialisierten Ländern kommt es dagegen häufiger vor, dass irgendwo in der Prozesskette die minimalen Sicherheits- und Hygienestandards nicht eingehalten werden. Es kann auch passieren, dass zu bestimmten Stoßzeiten nicht genug verarbeitende Betriebe vorhanden sind, so dass Teile der Ernte verderben. Dagegen helfen nur langfristige Investitionen in die Infrastruktur.
Wie stark sich industrialisierte und nicht industrialisierte Länder hier unterscheiden, sieht man bei Obst und Gemüse einerseits und bei Milch andererseits. In Europa geht auf dieser Stufe zehn mal so viel Milch verloren wie im subsaharischen Afrika, während bei Obst und Gemüse das Verhältnis genau umgekehrt ist.
Verbrauch: Vom Teller in die Tonne
Laut FAO werfen Konsumentinnen und Konsumenten in Europa und Nordamerika jährlich pro Kopf etwa 95 bis 115 Kilogramm Lebensmittel weg. In Südamerika und dem subsaharischen Afrika sind es nur 6 bis 11 Kilogramm. Weshalb die Haushalte in den Industrieländern so viel mehr Lebensmittel wegwerfen (laut BmELV-Studie in Deutschland 7,6 Millionen Tonnen im Jahr), können wir ganz gut an uns selbst erforschen. Ein ganz wesentlicher Punkt ist das Haltbarkeitsdatum – „abgelaufene“ Lebensmittel fliegen bei vielen Leuten selbst originalverpackt aus dem Kühlschrank, obwohl sie noch genießbar wären.

Ich wiederum werfe hauptsächlich Sachen weg, weil die gekauften Portionen für mich einfach zu groß waren, und auch damit bin ich in bester Gesellschaft. Ein anderer Punkt ist, dass Teile der zubereiteten Mahlzeiten in den Müll wandern – hier hängt es vom Lebensmittel ab, was ich aufbewahre. Ein gebratenes Stück Fleisch isst man am nächsten Tag auf Brot, zu viel gekochten Reis oder so kippt man eher weg.

Sie werden ähnliche Geschichten erzählen können – in letzter Konsequenz sind den meisten Menschen hierzulande Flexibilität, Bequemlichkeit und Sicherheit viel wichtiger als möglichst effiziente Ressourcennutzung. Ökonomische Studien deuten darauf hin, dass wir dabei rational vorgehen. Lebensmittelverschwendung auf Konsumentenebene hängt deswegen mit den Lebensmittelpreisen zusammen: Je teurer, desto weniger werfen wir weg.

Einige wichtige Muster zeichnen sich ab. So prägt sich der Wunsch von Kundinnen und Kunden nach ebenmäßigen Lebensmittel durch die gesamte Versorgungskette bis zur Ernte durch: Bereits dort werden Feldfrüchte, die nicht den vom Einzelhandel gesetzten Normen entsprechen, abgezweigt und an Tiere verfüttert. Als Konsequenz fällt hierzulande der hohe Anteil der Ernte an den Verlusten auf – das betrifft alle Produktgruppen außer Getreide und Fleisch, die sehr effektiv industriell produziert werden.

Ein großer Posten beim Lebensmittelverlust auf Verbraucherebene ist die Gastronomie. Dabei geht es nicht um den gelegentlichen Besuch in Restaurants, sondern vor allem um Firmenkantinen, Krankenhäuser, Schulen… Mitarbeiter dort können ein Lied davon singen, wie viel diese Einrichtungen wegwerfen, und die Zahlen aus der Forschung bestätigen solche Berichte. Die vom Ministerium in Aufrag gegebene Studie nennt je nach Quelle im Schnitt 151 Gramm und 175 Gramm Lebensmittelabfälle pro Portion, im Jahr 1994 für alle Großküchen in Deutschland insgesamt 1,6 Millionen Tonnen.

Zahlen, Zahlen, Zahlen: Was sagen sie wirklich aus?
Man lasse sich von der Vielzahl der Informationen nicht täuschen: Es ist trotz all dieser Zahlen praktisch unmöglich, aus den Daten ein genaues Gesamtbild zu entwerfen. Das wichtigste Problem ist, dass Lebensmittel nicht gleich Lebensmittel ist. Die verschiedenen Produktgruppen haben unterschiedliche Flächenerträge, verbrauchen unterschiedliche Wasser- und Energiemengen und enthalten unterschiedlich viele Kalorien.

Studien betrachten oft sehr unterschiedliche Dinge. Wie zum Beispiel definiert man Lebensmittelverlust? Fallen darunter deswegen auch potenzielle Lebensmittel, die aber zum Beispiel als Tierfutter oder Ausgangsmaterial für Bioethanol abgezweigt werden?

Es gibt Studien, die das zu erfassen suchen, aber die kann man mit den anderen Daten dann wieder nicht einfach vergleichen. Zum Beispiel gibt es einerseits Veröffentlichungen, in denen Lebensmittelverluste einfach pauschal in Tonnen oder US-Dollar angegeben werden, andere Gruppen rechnen sowas in Kilokalorien, Wasserverbrauch oder Kohlendioxidausstoß.

Alles hängt zusammen
Einzelne Teilfrage für sich alleine zu betrachten, ist ein hoffnungsloses Unterfangen: Man guckt sich die Ursachen für Lebensmittelverluste in den Landwirtschaft an und ist ganz schnell bei massenmedial vermittelten Normen und Idealen. Eine Bankenkrise lässt in manchen Ländern Gemüse im Lager verderben.  Oder man stellt fest: wenn wir nicht mehr die Hälfte des Essens wegwerfen, müssen wir nur noch halb so viel kaufen und ruinieren womöglich ganze Anbauregionen auf der anderen Seite des Globus. Andersherum können globale Märkte dazu führen, dass wir in Europa durch unseren Konsum bessere Infrastruktur woanders finanzieren und so Verluste verringern - oder aber unsere effizienten Märkte verdrängen die Produzenten ganz anderer Erdteile vom Markt. So, oder so, in der modernen Lebensmittelwirtschaft liegt die ganze Welt mit auf dem Teller, untrennbar verbunden.“

Lars Fischer ist studierter Chemiker, betreibt mit dem Fischblog einen der ältesten deutschen Wissenschaftsblogs und arbeitete mehrere Jahre als freier Wissenschaftsjournalist. Seit 2010 ist er als Redakteur für das Online-Wissenschaftsmagazin Spektrum.de tätig. Dort erschien bereits eine längere Fassung dieses Beitrags. spektrum.de
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