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Frei vor der Klasse zu sprechen, fördert das Selbstbewusstsein: Unterricht für Restavèk-Kinder im Projekt Tokyo. Fotos: Kathrin Meindl/Kindernothilfe e. V. (Fotos: Kathrin Meindl, KNH)
Hilfe für Haiti
Warum ein Stuhl mehr im Klassenzimmer
zu einem Stipendium führen kann
Von Bettina Rees
Neues aus Haiti: Was sich in den von REWE Group-Mitarbeitern unterstützten Bildungsprojekten tut, haben sich zwei Projektkoordinatorinnen der Kindernothilfe vor Ort angeschaut.
Projekt Tokyo: Schulische Basis für die Kinder, die keine Regelschule aufnimmt
Es geht voran in Haiti. In den letzten Monaten ist viel passiert. Die politische Situation hat sich allmählich beruhigt und schon für diesen Herbst wird die Eröffnung der Sekundarschule des Collège Véréna erwartet, deren Bau in Riesenschritten voranschreitet. Auch die von den REWE Group-Mitarbeitern neu unterstützten Hilfsprojekte laufen erfolgreich. Davon machten sich Michaela Gerritzen und Kathrin Meindl von der Kindernothilfe vor kurzer Zeit ein Bild. Die beiden Haiti-Koordinatorinnen besuchten die Bildungsprojekte, die mit Spenden der REWE Group-Mitarbeiter den ärmsten von Haitis Kindern eine Lebensperspektive eröffnen.

Zu den Projekten gehört das wieder aufgebaute Collège Véréna, das den Kindern im Armenviertel Delmas 2 in Port-au-Prince eine hervorragende Schulbildung zuteil werden lässt - kostenlos, was keine Selbstverständlichkeit ist in Haiti. Neu seit Anfang des Jahres ist die Unterstützung für zwei Restavek-Projekte, darunter das Projekt Tokyo, zu Fuß nur wenige Minuten vom nagelneuen Collège Véréna entfernt:
Ein kleines Haus, das aus allen Nähten platzt, seit langen Jahren ein Anker inmitten des Armenviertels Tokyo. Bei dessen Bewohnern genießt das Projekt Respekt und Anerkennung, insbesondere seit die Mitarbeiter direkt nach dem Erdbeben 2010 auf einem Basketballplatz unter Planen ein Kinderschutzzentrum ins Leben riefen, um den traumatisierten Kindern des Viertels einen sicheren Anlaufpunkt zu geben.  
Die beiden von der REWE Group unterstützten Einrichtungen liegen aber nicht nur nahe beieinander, sie arbeiten auch eng zusammen für das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder, so Michaela Gerritzen: „Was uns sehr freut, das ist die gute Zusammenarbeit zwischen Collège Véréna und Tokyo“.
Lernen statt Kinderhüten: Damit die Gasteltern dem Schulbesuch zustimmen, dürfen im Projekt Tokyo die Restavèk-Schüler schon einmal deren Kinder zum Unterricht mitnehmen.
Ein Netz für Kinder, die aus dem Raster fallen
Tokyo knüpft für Kinder, die aus jeglichem Raster gefallen sind, ein stabiles Netz: Motivierte und qualifizierte Lehrer bieten vor allem den Restavèk genannten, als Hausangestellte oft ausgebeuteten Kindern des Viertels schulische Grundbildung und nehmen sie an die Hand. „Der Unterricht, den sie dort erhalten, orientiert sich an ihren individuellen Fähigkeiten. Und die Kinder, die sich dem Niveau der Regelgrundschule annähern, werden vom Collège Véréna übernommen und können dort ihren normalen Bildungsweg weitergehen,“ so Gerritzen.

„Tokyo ist ganz, ganz wichtig“, betont auch KNH-Haiti-Koordinatorin Kathrin Meindl. Denn bei den Kindern, die Hilfe besonders nötig bräuchten, versage das haitianische Bildungssystem besonders häufig: „Kinder, die zu alt sind, können keine Schule mehr besuchen.“ Als Beispiel nennt sie ein zehnjähriges Mädchen, das die erste Klasse abbrechen musste. Ins normale Schulsystem kann sie nicht mehr eingegliedert werden, Förderprogramme fehlen.
So wie ihr geht es vielen Kindern und Jugendliche in Haiti, bei den Restavèk kommt verschärfend noch ihre häusliche Situation dazu. Daher ist das Projekt Tokyo weit mehr als eine Schule: Die Lehrer suchen das Gespräch mit den „Gasteltern“, statten ihnen Hausbesuche ab, zeigen ihnen die Rechte ihrer minderjährigen Hausangestellten auf. „Denn ohne die Unterstützung der Gastfamilien wird kein einziges Restavèk-Kind die Schule besuchen,“ so Meindl.

Die Hürden dafür legt das Projekt so niedrig wie möglich: „Wenn es nicht anders geht, erlaubt Tokyo auch mal, dass ein Restavek eins der kleinen Kinder, die es hüten soll, zum Unterricht mitbringt“, hat Michaela Gerritzen erlebt. Dann wird einfach ein weiterer Stuhl in den engen Klassenraum gestellt. Das Restavèk-Kind kann lernen - und das Gastelternkind gleich mit...
Eine Chance für Zehnjährige, die nie eine Regelschule besuchen konnten
Unterricht orientiert sich am Kind
Insgesamt drei Klassenstufen gibt es in Tokyo. „Starr ist das aber nicht,“ erläutert Michaela Gerritzen: In Tokyo erhalte jedes Kind die Chance, auf seinem individuellen Niveau anzufangen. „Manche kennen zwei, drei Buchstaben, andere haben schon einmal eine Schule besucht. Manche lernen schnell, manche tun sich schwer“. Für Tokyo laute die zentrale Frage: „Wo steht das Kind“.

Ohne die entsprechenden Lehrer geht das nicht. Diese hätten - wie auch das Kollegium vom Collège Véréna - an pädagogischen Fortbildungen teilgenommen, freut sich Kathrin Meindl: „Sie arbeiten jetzt interaktiv, es gibt Gruppenarbeit, die Kinder sprechen vor der Klasse. Das fördert ihre Kreativität, sie wirken viel lebhafter und selbstbewusster“. Der traditionelle rigide Frontalunterricht hingegen, ist sich die KNH-Koordinatorin sicher, wirke auf die ohnehin bedürftigen Restavèk noch einschüchternder.
Für das Projekt braucht es besondere Lehrer: Die Lehrkräfte von Tokyo haben - sowie das Kollegium des Collège Véréna auch - umfassende pädagogische Fortbildungen absolviert.
„Wir sind die Freunde unserer Schüler“
Aber nicht nur auf die Persönlichkeit der Kinder wirkt sich das neue Unterrichtsklima prima aus: Eine Lehrerin, erinnert sich Meindl, habe es so formuliert: „Jetzt sind wir die Freunde unserer Schüler“.

Für die Kinder, die nicht aufs Collège Véréna wechseln können, bietet Tokyo interne Ausbildungskurse in Schneiderei und Schusterei auf einfachem Niveau. Für anspruchsvollere Lehrberufe, wie Klempner oder Schlosser, kooperiert Tokyo mit Ausbildungsinstituten. Diese externen Ausbildungen dauern, angepasst an den Bildungsstand der Jugendlichen, ein Jahr. Sie können über das Stipendienprogramm finanziert werden.
Einen Plan von der Zukunft hat dieser junge Klempner-Azubi...
Stipendienprogramm
Türöffner Ausbildung
...Stolz erklärt er seine Anleitung zur Rohrverlegung in einem Neubau.
Das Stipendienprogramm ist - neben Collège Veréna und Tokyo - die dritte Säule der Bildungsprojekte, die mit Hilfe von Ihren Spenden haitianischen Kindern eine Zukunft geben. Denn es gibt in Haiti so gut wie keine Beschäftigung auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenrate ist hoch, die Zahl der ungelernten Arbeiter auch. Die meisten Jobs finden sich im informellen Sektor: Straßenhändler, die für wenig Geld eine Ware en gros kaufen und sie dann in kleinen Mengen und mit kleinem Gewinn verkaufen. Menschen, die täglich neu ihre Arbeitsleistung anbieten. Rund 60 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, das heißt von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. Haiti ist zudem voller junger Leute: 22 Prozent der Bevölkerung sind zwischen zehn und 18 Jahre alt. Sie alle suchen jetzt oder in absehbarer Zeit Arbeit.

Uniabschluss als Zukunftshelfer

Da ist eine gute Qualifikation Gold wert: „Die Chancen, mit Ausbildung eine formelle Arbeit zu finden, liegen hoch“, so Haiti-Kennerin Michaela Gerritzen. „Und wer von der Uni kommt, dessen Zukunft sieht sehr gut aus.“ Weil Bildung jedoch nicht umsonst ist in Haiti, rief die Kindernothilfe das von der REWE Group unterstützte Stipendienprogramm ins Leben, das im September an den Start gehen soll. „Die Vorbereitung läuft auf Hochtouren, und mit der Pädagogin Elmide Osse Pierre haben wir jetzt eine sehr engagierte Programmkoordinatorin eingestellt.“

Die 95 Stipendien sollen an Schülerinnen und Schülern des Collège Vérena und des Projekts Tokyo gehen. Die Auswahlkriterien werden derzeit erarbeitet, auch mit Beteiligung der Schüler. Bei einem Infoabend vor der Abschlussklasse des Collège war der Raum zum Bersten voll: „Die Schüler stellen viele Fragen und kluge Fragen. Diese Fragen nimmt Elmide Osse Pierre bei der Entwicklung des Stipendienprogramms mit auf“, so Gerritzen, das entspräche auch dem Anspruch der Kindernothilfe zur Partizipation: „Den Schülern soll nichts übergestülpt werden, das Programm soll ja passen.“ Klar ist zum aktuellen Zeitpunkt: Die Stipendien gehen zu gleichen Teilen an Mädchen und Jungen, die Noten und die Motivation der Bewerber spielen eine Rolle. Einen kleinen Eigenanteil sollen die Stipendiaten leisten. Vergeben werden Stipendien für Universität, Fachinstitute und Kurzzeitausbildungen für die Kinder von Tokyo, die sonst keine Chance haben.
Sie möchten einen Beitrag für die Zukunft von Haitis Kindern leisten: Klicken Sie einfach auf dasSpendenformular für REWE Group-Mitabeiter.
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