Mehr Internationalität geht kaum: Emilie Bourgoin, Französin mit Wahlheimat Deutschland, hat einen spanischen Großvater und eine italienische Großmutter. Ihr Mann hat türkische Wurzeln, ihre Kinder sind deutsch. Die Leiterin Public Affairs der REWE Group erläutert, warum Europa manchmal kompliziert ist, auf was wir verzichten müssten, wenn es Europa nicht gäbe und wie Unternehmen helfen können, für Europa zu werben.
one: Wann sind Sie dem europäischen Gedanken zum ersten Mal begegnet?
Emilie Bourgoin: Als Studentin. Damals bin ich durch das von der EU geförderte Austauschprogramm Erasmus nach Deutschland gekommen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet, und auch keine Vorstellung von Europa. Aber das änderte sich rasch. Anfangs hatte ich vor allem Kontakt zu anderen ausländischen Kommilitonen, dann nach und nach auch zu Deutschen. Mit der Zeit öffneten sich Fenster, ich wurde neugieriger und habe den Aufenthalt an der Universität in Düsseldorf verlängert. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und bin am Ende ganz hiergeblieben.
one: Damit hatte das Erasmus-Programm seinen Auftrag erfüllt: Studenten einen Blick über die Landesgrenzen zu verschaffen, um vor allem Europa besser kennenzulernen und wertzuschätzen.
Emilie Bourgoin: Ja, Erasmus ist ein tolles Vehikel, um die Idee von Europa erlebbar zu machen. Um ein fremdes Land wirklich kennenzulernen, sollte man eine Zeitlang dort leben. Erst dann fängt man an, die Kultur zu verstehen und wird offener. Ich finde, junge Leute sollten wenn irgend möglich einen Auslandsaufenthalt absolvieren. Wenn wir in Europa mehr voneinander wissen, verschwinden auch die Ängste, die viele Menschen vor dem Fremden haben.
one: Die meisten Menschen in Europa fühlen sich vor allem ihrem Land verbunden, manchmal sogar ihrer Region. Aber eben weniger Europa. Warum ist es so schwer, den europäischen Gedanken zu verwurzeln?
Emilie Bourgoin: Vielleicht, weil Europa für jeden etwas anderes bedeutet. Für die einen stehen Freiheit, Frieden und Demokratie obenan. Für andere ist es Wohlstand. Wieder andere betonen die Vielfalt. Welche Botschaften also sollen wir über Europa kommunizieren? Uns verbindet in Europa keine gemeinsame Kultur, sondern gemeinsame Werte – diese zu transportieren, ist abstrakter und gleichwohl komplizierter. Es gibt kaum ein Thema, das alle gleichermaßen angeht. Außer natürlich, dass Europa nun schon so lange unseren Frieden sichert. Wichtig wäre, den Menschen klar zu machen, dass sie etwas dazu bekommen, wenn sie sich zu Europa bekennen und ihnen nichts weggenommen wird.
„Die EU leistet extrem viel für jeden Bürger – den meisten ist das nur nicht unmittelbar bewusst.“Emilie Bourgion
one: Also muss die Kommunikation besser werden.
Emilie Bourgoin: Politik wird sehr stark über Sprache gemacht. In Großbritannien haben wir bei der Abstimmung zum Brexit gesehen, wohin es führt, wenn EU-Befürworter nicht laut genug das Wort erheben. Dabei brauchen wir ein vereintes Europa mehr denn je. Ob Klima, Migration oder Digitalisierung - die Herausforderungen, die wir lösen müssen, kennen keine Grenzen mehr. Nur gemeinsam sind wir stark genug, diese Probleme zu meistern. Ein gutes Beispiel war in dieser Woche das gemeinsame Treffen zwischen dem chinesischen Präsidenten und Macron, Merkel und Juncker. Die Politiker Europas müssen mehr Geschlossenheit zeigen und dabei positive Bilder und starke Signale transportieren. Europe united! ☺
one: Die EU-Gegner verschaffen sich besser Gehör und schüren Ängste, vor allem in osteuropäischen Ländern. Dort wird wieder sehr national gedacht und gehandelt. Was lässt sich dagegen tun?
Emilie Bourgoin: Möglicherweise haben wir uns in der Vergangenheit zu wenig Mühe gemacht, diese Länder zu verstehen. Nehmen wir Rumänien, das extrem darunter leidet, dass viele Menschen das Land verlassen, weil sie anderswo bessere Chancen für sich sehen. Entsprechend schwer fällt es Rumänien, wirtschaftlich Anschluss zu gewinnen. Wir in Deutschland kennen solche Ängste nicht. Aber wie würden wir reagieren, wenn Jahr für Jahr Hundertausende auswanderten? Wir müssen Länder wie Rumänien stärker unterstützen und weniger konfrontativ agieren.
one: Mit Europa verbinden viele Menschen vor allem ein Mehr an Bürokratie.
Emilie Bourgoin: Ja, natürlich gibt es viele bürokratische Hürden. Europa hat das Ziel, zu harmonisieren und damit oftmals zu standardisieren. Aber die Gegebenheiten in den Mitgliedsländern sind höchst unterschiedlich. Also gilt es sich zu verständigen. Das kennen wir doch aus unserem Arbeitsalltag: Bis ein Projekt abgeschlossen ist, bedarf es vieler Abstimmungsschleifen. Wenn 28 Staaten betroffen sind, erleben wir das Gleiche im XXL-Format. Aber am Ende geht es immer um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Europa muss die Interessen jedes Mitgliedslandes berücksichtigen. Und nicht zu vergessen: Debatten, so anstrengend sie auch manchmal sein mögen, sind Teil der Demokratie. Und das ist gut so.
„Die REWE Group beschäftigt 360.000 Menschen in Europa. Wenn wir unsere Mitarbeiter ein Stück weit für Europa begeistern, haben wir unseren Beitrag geleistet.“Emilie Bourgoin
one: Warum sollten Mitarbeiter der REWE Group zur Wahl gehen? Was leistet Europa für sie?
Emilie Bourgoin: Einiges: Ohne die EU hätten wir keine Warenverkehrsfreiheit, also weniger Vielfalt im Verkaufsregal. Wir hätten weniger Qualitätsstandards, also Produkte unterschiedlichster Güte im Sortiment. Und es gäbe keine Arbeitnehmerfreizügigkeit, die EU-Bürgerinnen und -bürgern den Zutritt zu Arbeitsmärkten in anderen Ländern der EU erlaubt, – mit der Folge, dass die REWE Group für ihren Expansionskurs nicht genügend Mitarbeiter fände. Die EU leistet viel für jeden Bürger – den meisten ist das nur nicht immer unmittelbar bewusst.
one: Zum Beispiel?
Emilie Bourgoin: Insgesamt kommen 94 Prozent des EU-Haushaltes den Bürgern, Regionen, Kommunen, Landwirten und Unternehmen zu Gute. Beispielsweise werden regionale Projekte zu Stadtentwicklung wie die Sanierung von Straßen, Renovierung einer Schule oder die Förderung des ländlichen Raums von der EU unterstützt und von den Bundesländern verwaltet.
one: Wir als Händler betonen immer wieder die Vorzüge regionaler Produkte. Auf der anderen Seite bieten wir den Kunden gerne ein vielfältiges Angebot von Waren aus anderen Ländern. Ist das nicht ein Widerspruch?
Emilie Bourgoin: Nein. Wenn wir Vielfalt wollen, müssen wir zum Beispiel Obst und Gemüse auch aus anderen Ländern einkaufen. Allein die Witterungsbedingungen lassen uns keine andere Wahl. Die Kunden wollen beides - Produkte aus ihrer Region, weil sie dazu eine emotionale Bindung haben. Aber auch zum Beispiel Orangensaft und Ananas. Und das möglichst zu jeder Jahreszeit.
one: In vielen osteuropäischen Ländern wird gerade verstärkt dazu aufgerufen, heimische Produkte zu kaufen.
Emilie Bourgoin: Es ist ja grundsätzlich auch nicht verkehrt, die heimische Landwirtschaft stärken zu wollen. Das möchte jedes Land für seine Landwirte erreichen, auch wir möchten die hiesigen Wertschöpfungsketten stärken. In einigen Ländern haben wir sogar bis zu 80 Prozent heimische Produkte in den Regalen. Damit bekennen wir uns zu unserer lokalen Verantwortung und setzen ein Zeichen für den Schutz der Biodiversität sowie den Erhalt und die Förderung der lokalen Strukturen. Der Knackpunkt ist nur, wie die Länder solche Förderung veranlassen. Die Regierungen sollen sich nicht als Anwalt der Verbraucher profilieren und mit solchen Appellen suggerieren, dass heimische Waren grundsätzlich besser sind. Das lässt sich nicht belegen. Es ist in Ordnung, die heimische Wirtschaft zu stärken, aber man darf ausländische Anbieter nicht aussperren.
one: Wie gehen wir als Handelsunternehmen damit um?
Emilie Bourgoin: Tatsache ist leider, dass wir mit protektionistischen Gesetzen in den osteuropäische Ländern immer häufiger konfrontiert werden. Europa soll als Garant unserer Investitionen dienen. Es gilt: faire Spielregeln für alle. Wir als REWE Group werden gegen Diskriminierung und Korruption immer vorgehen.
„Wir möchten unsere Mitarbeiter nicht politisieren, wohl aber sensibilisieren. Wir wollen jedem deutlich machen: Europa betrifft auch dich, in vielen Bereichen deines Lebens.“Emilie Bourgoin
one: Sollten Unternehmensvertreter stärker die Werbetrommel für Europa rühren, wenn sich die Politik in Deutschland und anderswo damit schwertut?
Emilie Bourgoin: Ja, wenn die Politik keine passenden Worte findet, müssen wir das tun. Und wir haben die Möglichkeiten dafür. Die REWE Group beschäftigt 360.000 Menschen in Europa. Wenn wir unsere Mitarbeiter ein Stück weit für Europa begeistern, leisten wir einen wichtigen Beitrag. Es wäre schön, wenn wir mehr Menschen motivieren könnten, zur Wahl zu gehen. Egal, wo sie ihr Kreuz am Ende machen – Hauptsache, sie beschäftigen sich mit Europa und erkennen, dass dies für sich wichtig ist.
Ich freue mich auch, über immer mehr Wirtschaftsinitiativen zur EU in der Öffentlichkeit zu lesen. Man spürt, da tut sich etwas. Das sind sicherlich auch die Erkenntnisse aus dem Brexit und aus der Polarisierung und Radikalisierung einiger politischer Debatten. Vielleicht war das ein spätes, aber noch rechtzeitiges Wachrütteln.
one: Haben Unternehmen wie die REWE Group die Pflicht, Europa vor allem für ihre jungen Mitarbeiter erlebbar zu machen?
Emilie Bourgoin: Keine Pflicht, aber eine gesellschaftliche Verantwortung – insbesondere als internationales Unternehmen. Wir möchten unsere Mitarbeiter nicht politisieren, wohl aber sensibilisieren. Wir wollen jedem deutlich machen: Europa betrifft auch dich, in vielen Bereichen deines Lebens. Du kannst und solltest mitbestimmen, wohin die Reise geht!
one: Wie gelingt es Kommunikatoren von Unternehmen, bei Politikern Gehör zu finden und für die eigenen Themen zu werben?
Emilie Bourgoin: Wir suchen immer wieder das Gespräch, um zu erklären, wie wir funktionieren und welches unsere Anliegen sind. Und wir sind da, wenn die Politik Fragen hat. Aber natürlich haben Politiker viele Themen und sprechen nicht nur mit uns. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Anliegen so auf den Punkt bringen, dass unsere Ansprechpartner in kürzester Zeit verstehen, was wichtig ist. Keine seitenlangen Positionspapiere, sondern präzise Botschaften!
Eine Klage der REWE-Zentral AG führte am 20. Februar 1979 zu einer der wichtigsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum freien Warenverkehr: dem Cassis-de-Dijon-Urteil, wie der Richterspruch in Fachkreisen bezeichnet wird.
REWE wollte den französischen Johannisbeerlikör Cassis de Dijon in Deutschland einführen. Dies verweigerte die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, da der Likör nicht den nach dem Branntweinmonopolgesetz erforderlichen Mindestalkoholgehalt von 25 Prozent aufwies. REWE erhob daraufhin Klage gegen die Bundesmonopolverwaltung und berief sich dabei auf den freien Warenverkehr innerhalb der Europäischen Gemeinschaft – und gewann.
Das aus dem Urteil abgeleitete Cassis-de-Dijon-Prinzip besagt generell, dass alle Produkte, die in einem EU-Mitgliedstaat vorschriftsgemäß hergestellt wurden, in allen anderen Mitgliedstaaten verkauft werden dürfen. Gemäß der Entscheidung darf ein Mitgliedstaat die Warenverkehrsfreiheit in der EU nur aus ganz bestimmten, im öffentlichen Interesse stehenden Gründen einschränken: Insbesondere zur steuerlichen Kontrolle, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, zum Schutz der Lauterkeit des Handelsverkehrs und aus Gründen des Verbraucherschutzes.