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ArticleId: 525magazineArchtitekt Alvaro Arragiada hat das Collège Véréna in Haiti entworfen. Im one_Interview spricht er über die größten Herausforderungen, die schlimmsten und schönsten Momente und seine Suche nach Gerechtigkeit.https://one.rewe-group.com/fileadmin/_processed_/6/9/csm_24037537_mgt_standard_d51f7bffb1.jpg„Ich wusste, hier kann ich wirklich helfen.“Haiti-Architekt im Interview
Architekt Alvaro Arriagada im Interview
„Ich wusste: Hier kann ich mit meiner Arbeit wirklich helfen“
das Gespräch führte Sebastian Amaral Anders
Der chilenische Archtitekt Alvaro Arragiada hat das Collège Véréna in Haiti entworfen, das die REWE Group gemeinsam mit der Kindernothife gebaut hat. Im one_Interview spricht der 33-Jährige über die größten Herausforderungen beim Schulbau, die schlimmsten und schönsten Momente und warum die Suche nach Gerechtigkeit ihn motiviert, in Haiti zu arbeiten.
one: Herr Arriagada, Sie haben unmittelbar nach dem Erdbeben zusammen mit der Kindernothilfe mit der Arbeit in Haiti begonnen – inmitten unvorstellbarer Zerstörung. Was waren Ihre ersten Eindrücke?
Alvaro Arriagada: Die Kindernothilfe hatte uns gebeten, ihre bereits bestehenden Projekte in Haiti aufzusuchen um den Wiederaufbau einleiten zu können. Als wir auf dem Landweg aus der Dominikanischen Republik nach Port-au-Prince kamen, wurde uns mit jedem Meter der Kontrast klarer: Aus einem Land mit einer modernen Infrastruktur kommend, betraten wir in Haiti ein verarmtes Land, das auf Heftigste von dem Erdbeben betroffen war. So etwas hatte ich in meinen Leben noch nie gesehen.
one: Warum waren die Auswirkungen des Bebens in Haiti so heftig?
Alvaro Arriagada: Das Erdbeben hat die Armut mit allen Begleiterscheinungen brutal zum Vorschein gebracht: Die allermeisten Häuser hatten sich die Menschen selbst gebaut, natürlich ohne den geringsten Erdbebenschutz. Vor allem diese prekären Behausungen waren völlig zerstört. Überall schnitten Tonnen von Trümmern Verbindungswege ab, dazwischen versuchten verzweifelte, hilfesuchende Menschen das Ausmaß dieser Katastrophe zu verstehen. Mit diesen Eindrücken umzugehen, war für mich anfangs nicht einfach, aber letztlich haben sie mich darin bestätigt, dass ich am richtigen Ort war. Ich wusste: Hier kann ich mit meiner Arbeit wirklich helfen.
one: Sie haben als Architekt das Collège Véréna in Haiti entworfen. Was war dabei die größte Herausforderung?
Alvaro Arriagada: Das fing schon bei der Planung an: Die Logistik war in Haiti fast zum Erliegen gekommen, es gab keine Strukturen, an denen wir uns hätten orientieren können. Dazu kam die allgegenwärtige Korruption. Außerdem war unser Ziel, die Menschen und auch die lokalen Ressourcen vor Ort so gut es geht einzubinden, sowohl bei der Planung als auch im gesamten Projektverlauf. Für mich ist es ein falscher Ansatz, einfach alles von außen ins Land zu bringen, wie es viele andere machen. Die Menschen vor Ort und ihre Kultur sollten im Mittelpunkt des Projekts stehen, von der Beteiligung an der Planung und den Entwürfen bis hin zur Umsetzung auf der Baustelle mit lokalen Arbeitern. Außerdem war es mir wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass wir etwas Zeit brauchen, wenn wir nicht nur eine schnelle Behelfslösung anbieten wollen, sondern eine Schule bauen, die auch in Zukunft noch Bestand hat.
one: Welche Rolle spielt dabei neben allen funktionalen Aspekten wir Belüftung und Erdbebensicherheit die Ästhetik des Gebäudes?
Alvaro Arriagada: Warum sollte ein Nobel-Gymnasium einen größeren ästhetischen Wert als eine Schule in einem Armenviertel haben? Ich bin überzeugt davon, dass man Armut auch auf dieser Ebene bekämpfen muss. Unsere Schule sollte ihren späteren Benutzern auch einen Teil ihrer Würde zurückgeben. Neben der Funktion der Räume als Bildungsort sollen sich die Kinder ihre Schule im Wortsinne auch zu eigen machen, sich als Teil dieses Ortes fühlen, in einem Ort, der Funktionalität und Ästhetik vereint. Die Wirkung geht weit über die Schule selbst hinaus, sie ist für das ganze Viertel Delmas 2 ein Zeichen der Verbesserung und der Entwicklung.
one: Wie haben Sie die Eröffnung der Primarschule erlebt?
Alvaro Arriagada: Die Begeisterung der Kinder zu sehen, hat mich sehr glücklich gemacht. Es hat mich sehr berührt, bei der Eröffnung zu beobachten, wie die Kinder das Gebäude zu ihrer Schule gemacht haben. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, zumindest einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben, ihr Leben etwas besser zu machen. Der wahre Erfolg des Projektes wird sich aber mit der Zeit erst zeigen. Das wichtigste ist für mich, dass die Kinder das Gefühl entwickeln, dass das ihre Schule ist, dass sie jeden Morgen aufwachen und sich darauf freuen, ihre Schule zu besuchen und sie zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung wird.
one: Sie kommen aus Chile – wie sind Sie dazu gekommen, in Haiti Schulen zu bauen?
Alvaro Arriagada: Mich haben in meinem Leben verschiedene Dinge geprägt: Ich bin Chilene, habe meine Kindheit aber in Venezuela verbracht. Ich bin in einem multikulturellen Umfeld großgeworden, immer umgeben von Kindern unterschiedlichster Herkunft. Durch mein Engagement bei den Pfadfindern habe ich mich auch ausführlich mit der Arbeit mit Kindern beschäftigt. Ich habe in der Schule Französisch und Englisch gelernt und später Architektur studiert. Als Architekt in Chile habe ich schließlich in verschiedenen Projekten in sozialen Brennpunkten gearbeitet. Als ich dann einen Mitarbeiter der Kindernothilfe kennenlernte, der mir von den Projekten in Haiti erzählte, passte alles zusammen. Ich wusste: Alles, was ich in bis dahin in meinem Leben gelernt und erfahren hatte, würde ich in Haiti sinnvoll einsetzen können.
one: Wie haben Sie die Veränderungen in Haiti in den vergangenen fünf Jahren erlebt?
Alvaro Arriagada: Um es kurz zu sagen: Es war eine permanenter Lernprozess. Genauso wie die Ausmaße und die schrecklichen Folgen einer solchen Naturkatastrophe grenzenlos sind, gibt es auf der anderen Seite auch keine Grenze für uns in unserem Bestreben, mit unserer Arbeit die Lebensqualität vieler Menschen zu verbessern. Die Arbeit aller Partner, die an diesem Schulprojekt mitgewirkt haben, ist einfach nicht hoch genug zu schätzen: Die Kindernothilfe, die den Wiederaufbau gesteuert hat. Die Solidarität und die große Spendenbereitschaft der REWE Group und ihrer Mitarbeiter, die die Finanzierung des Projektes überhaupt erst möglich gemacht haben. Der Einsatz der lokalen und internationalen Teams – wir alle sind in diesen Jahren gewachsen und haben vielleicht neue Kräfte in uns entdeckt, von denen wir vielleicht vorher noch gar nichts gewusst haben.

one: Was ist ihre persönliche Motivation, sich der Arbeit in diesem Land zu widmen?
Alvaro Arriagada: Ich suche immer nach Ausgleich und Gerechtigkeit. In Chile gibt es viele sehr gute Architekten – aber es interessiert mich nicht, mich mit ihnen zu messen und mir in einem Überangebot an Architekten meinen Platz zu erkämpfen. Ich finde es sinnvoller, meine Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden. Haiti ist zum Mittelpunkt meiner beruflichen Entwicklung und meiner Suche nach dieser Gerechtigkeit geworden. Das, was ich hier gelernt habe, möchte ich noch in vielen weiteren Projekten einsetzen.
Linou, 12 Jahre
Das harte Leben als "Restavèk"
Weil die Mutter bettelarm ist, überlässt sie ihre Tochter Linou einer Familie in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Der Rettungsanker des heute zwölfjährigen Mädchens: Das gemeinsame Schulbauprojekt von Kindernothilfe und REWE Group. In one stellen wir in den nächsten Monaten Kinder aus Haiti und ihre bewegenden Schicksale vor. Linou* ist zwölf Jahre alt und ein so genanntes Restavèk-Kind. Das Wort kommt von dem französischen Begriff "rester avec" und bedeutet "bei jemandem bleiben". Linou bleibt bei Onkel und Tante, die aber nicht wirklich ihre Verwandte sind. Sie nennt sie nur so.

Linou ist eine von vielen: Auf dem Inselstaat Haiti in der Karibik gibt es Schätzungen zufolge rund 300.000 Restavèk-Kinder. Sie arbeiten in den Haushalten ihrer "Gastfamilien" unter zumeist ausbeuterischen Bedingungen. Fast drei Viertel von ihnen sind Mädchen. Linou lebt als Restavèk in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Nach dem Tod ihres Vaters sah ihre verzweifelte Mutter keine Möglichkeit, genügend Geld für ihren Lebensunterhalt und den ihrer zwei Töchter zu verdienen.

Als deshalb eines Tages eine Frau aus Port-au-Prince kam und Linou mit in die große Stadt nehmen wollte, willigte die Mutter ein. Linou berichtet: "Die Frau sagte, dort hätte ich bessere Chancen zur Schule zu gehen und später eine Arbeit zu finden." Zwar muss sie jeden Tag viele Stunden im Haushalt arbeiten. Aber sie hatte Glück; denn sie durfte wirklich zur Schule gehen.
Die Situation für Restavèk-Kinder ist seit dem schweren Erdbeben im Januar 2010 noch schlechter geworden. Die Familien, in denen sie lebten, sind entweder durch das Erdbeben ums Leben gekommen oder kümmern sich vornehmlich um die eigene Existenz. Noch mehr als vor dem Beben sind sie gefährdet, Opfer von gewalttätigen Übergriffen oder Kinderhandel zu werden. Die Zwölfjährige sagt: "Meine Tante ist keine nette Frau. Oft schlägt sie mich mit einem Gürtel. Sogar wenn ich gar nichts gemacht habe."

Das "goudu-goudu", so das haitianische Wort für Erdbeben, erlebte Linou im Armenviertel Fort National in Port-au-Prince. Auf allen Vieren kriechend konnte sie sich aus dem eingestürzten Wohnhaus der Familie retten. Auch Linous Schule wurde komplett zerstört. Nach dem Erdbeben zog Linou mit "Onkel" und "Tante" in eines der riesigen Zeltlager in Port-au-Prince. Zwischenzeitlich besuchte Linou das Notschulprogramm im Kinderzentrum der Kindernothilfe - in großen, provisorischen Pavillons aus Holz. Mittlerweile ist die Primarschule des neuen Collège Véréna wieder aufgebaut.

Linou geht sehr gerne zur Schule, weil sie dort mit ihren Freunden malen und zeichnen kann. Es war ihre Lehrerin Mireille, die herausfand, dass das kleine Mädchen ein Restavèk-Kind ist: "Linou hatte Aussprache-Probleme. Also setzte ich mich nachmittags noch einmal mit ihr hin und übte mit ihr. Als sie "pa" für "papa" sagen sollte, fing sie an zu weinen. Danach erzählte sie mir ihre traurige Geschichte."
Seitdem Mireille Linous Schicksal kennt, kümmert sie sich besonders intensiv um das Mädchen. "Meistens wird den Restavèk-Kinder von der Familie, mit der sie leben, wenig oder keine Aufmerksamkeit geschenkt. Stattdessen müssen sie hart arbeiten und werden häufig geschlagen", sagt die Lehrerin. "Diese Kinder brauchen also noch mehr Zuwendung."

Seit der Trennung hat Linou ihre Mutter und Schwester nur ein einziges Mal gesehen. Doch das junge Mädchen kennt einen Ausweg: "Mireille bringt mir rechnen und schreiben bei. Das ist ganz wichtig, denn ich will später einmal eine erfolgreiche Geschäftsfrau werden", sagt die Zwölfjährige. Mit dem Geld, das sie später verdienen möchte, kann sie dann endlich ihre Familie wieder besuchen. *Name geändert
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