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Kirnadz Anhelina | Quelle: REWE Group
Lesedauer: 8 Minuten
Kirnadz Anhelina im Interview
„Im Juli habe ich beschlossen wegzugehen"
von Michaela Thömmes

Anhelina Kirnadz ist studierte Modedesignerin und Public Relations Managerin am Stadttheater von Czernowitz (Westukraine), als am 24. Februar 2022 die Invasion russischer Truppen beginnt. Heute arbeitet die 26-Jährige im REWE Logistikzentrum Eitting in der Region Süd als Kommissioniererin.

Im Interview mit one erzählt Anhelina Kirnadz ihre Geschichte.

one: Anhelina, vielen Dank für deinen Mut und deine Bereitschaft von deinen Erlebnissen zu erzählen. Wie hast du damals den Kriegsausbruch erlebt und wann kam der Punkt, an dem du beschlossen hast, das Land zu verlassen?

Anhelina Kirnadz: Meine Mama hat mich in der Nacht zum 24. Februar 2022 um 4 Uhr morgens geweckt und mir gesagt, dass der Krieg begonnen hat. Wir haben in der Wohnung zusammengesessen und geweint. Dann ertönte die erste von sehr vielen Luftalarm-Sirenen und wir mussten uns in Sicherheit bringen. Das war nicht so einfach, denn wir wohnten in einem neunstöckigen Gebäude ohne Keller, sodass wir erst einmal die Treppen herunter und aus dem Haus mussten, bevor wir den nächsten Bunker oder Keller aufsuchen konnten. Wir hatten oft Luftalarm.

Ich habe in dieser Zeit angefangen als freiwillige Helferin Netze für unser Militär zu knüpfen, das hat mir mental ein wenig geholfen, weil ich so etwas beitragen konnte. Wenn man die Bilder und Nachrichten sieht, dreht man irgendwann durch, wenn man nichts tun kann.

In Czernowitz waren wir nicht ganz so schlimm von den Angriffen betroffen, wie die ostukrainischen Regionen. Es kamen viele Binnenflüchtlinge aus diesen Gebieten zu uns. Ich erinnere mich an die Menschen aus Mariupol, die zu uns kamen und uns, trotz des ganzen Leids, das sie erfahren haben, so sehr geholfen haben.

Im Juli habe ich dann beschlossen von Zuhause wegzugehen.

one: Bist du gemeinsam mit deiner Familie geflohen oder hast du dich alleine auf den Weg gemacht?

Anhelina Kirnadz:: Ich bin Einzelkind und ich bin allein geflohen. Meine Eltern sind dortgeblieben. Die älteren Leute bleiben oft im Land, weil sie in ihrer Heimat unglaublich verwurzelt sind und ihrer Stadt und ihrer Arbeit sehr verbunden sind. Meine Mutter zum Beispiel ist Gesangslehrerin und mein Vater arbeitet bei den Stadtwerken, sodass er nicht zum militärischen Dienst berufen wurde, weil sein Beruf für die Infrastruktur und die Versorgung der Stadt wichtig ist.

one: Wie hast du es geschafft, zu fliehen? Hattest du ein klares Ziel vor Augen, wo du hin möchtest?

Anhelina Kirnadz: Ich bin mit dem Bus gekommen und ich wollte auch gezielt nach Deutschland. Ich habe hier ein paar Bekannte. Außerdem hat Deutschland den Ruf, die Menschen nicht im Stich zu lassen, wenn sie in Notsituationen sind. Ein Problem auf der Reise war das Warten an der polnischen Grenze, dort haben wir 20 Stunden ausgeharrt, eh wir passieren durften. Aber auch hier gab es recht menschenwürdige Bedingungen, wenn man das so sagen kann – Toiletten und etwas zu essen standen hier bereit.

one: Hattest du, als du dann endlich in Deutschland angekommen bist, viel Stress mit Behördengängen und Papierkram?

Anhelina Kirnadz: Ungewohnt war sicherlich, dass man auf Termine manchmal wochenlang warten muss. Aber ich hatte Glück. Alle Amtstermine konnte ich mit Englisch bestreiten und ich wurde sehr herzlich aufgenommen. Dafür bin ich unglaublich dankbar.

one: Wie bist du dann zur REWE gekommen?

Anhelina Kirnadz: In der Flüchtlingsunterkunft, in der ich wohnte, ist jemand auf Stellenangebote in der Logistikbranche gestoßen, insbesondere auf das REWE Logistikzentrum in Eitting. Und so kam es, dass wir gemeinsam mit mehreren Leuten geschlossen hier anfangen konnten und eine Einstellung bekommen haben. Jetzt arbeite ich hier Vollzeit in der Kommissionierung im Bereich Trockenware und stelle die Waren zusammen, die die Märkte im Verkauf benötigen.

one: Wie geht es dir in diesem Job?

Anhelina Kirnadz: Ganz am Anfang war es natürlich schon eine Umstellung, weil es im Vergleich zu vorher eine eher körperliche Arbeit ist. Aber ich habe mich bewusst dafür entschieden, eigenständig zu sein und mein eigenes Geld zu verdienen. Es gibt natürlich Leute, die die Unterstützung brauchen, weil es nicht anders geht. Aber solange ich arbeiten kann, möchte ich auf eigenen Beinen stehen. Ich bin sehr dankbar, einen so tollen Arbeitgeber gefunden zu haben. Die REWE Kolleg:innen haben mich sehr herzlich aufgenommen und mich in verschiedenen Bereichen eingearbeitet. Wir haben einen guten Kontakt untereinander und können uns auch gegenseitig bei der Verständigung helfen.  

Anm. der Redaktion: Das gesamte Interview wurde dankenswerterweise vom Kollegen Oleg Berkuzki (Teamleiter Obst und Fleisch) übersetzt, der ursprünglich auch aus der Ukraine kommt und schon länger in Deutschland lebt.

one: Möchtest du uns abschließend erzählen, wie es deinen Eltern geht? Habt ihr regelmäßigen Kontakt?

Anhelina Kirnadz: Ich telefoniere jeden Tag mit meinen Eltern. Es ist nun ziemlich genau ein Jahr vergangen seit dem Angriff und die Leute versuchen, mit dieser neuen Realität irgendwie zu leben. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie bauen das Land wieder auf, was im Moment immer schwieriger wird, weil kritische Infrastruktur wie die Stromversorgung mittlerweile auch angegriffen wird. Aber das ist Krieg. Es gibt keine Routinen mehr und es wird weiterhin jeden Tag ungewiss bleiben, was als nächstes passiert.

one: Anhelina, vielen Dank für das Gespräch!


* English Version *


Interview with Kirnadz Anhelina
"In July I decided to leave"

Kirnadz Anhelina had studied fashion design at university and worked as a public relations manager of the city theatre in Chernivtsi in western Ukraine when the Russian invasion began on February 24, 2022. The 26-year-old now works as a picker at the REWE logistics centre in Eitting in the southern region.

In an interview with “one”, Kirnadz Anhelina tells her story.

Kirnadz Anhelina | Source: REWE Group one: Kirnadz, thank you very much for your bravery and your willingness to share your experiences. What was it like when the war started, and when did you decide to leave the country?

Kirnadz Anhelina: My mother woke me at 4 a.m. on the night of 24 February 2022 and told me that the war had begun. We sat in our apartment and cried. Then we heard the first air-raid sirens and had to look for a safe place. This wasn’t easy because we lived in a nine-story building with no basement, so we first had to walk down the stairs and then leave the building before we were able look for a nearby bunker or basement. We heard the sirens often.

I began working as a volunteer making camouflage nets for our military, which helped me a bit mentally because I was able to do something to help. When you’re seeing the images and watching the news, not being able to do anything drives you crazy.

We weren’t as badly affected by the attacks in Chernivtsi as they were in eastern Ukraine. A lot of internally displaced refugees came to our area from this region. I remember the people from Mariupol who – despite all the suffering they had endured themselves – helped us so much.

It was in July that I decided to leave my home.

one: Did you flee with your family, or did you go alone?

Kirnadz Anhelina: I am an only child and I fled on my own. My parents stayed behind. Older people often stay in the country because they are so firmly rooted in their homeland, and they’re very tied to their city and their work. For example, my mother teaches singing and my father works at a public utility. He wasn’t called up for military service because his work is important for ensuring the city’s infrastructure and power supply.

one: How did you manage to flee? Did you have a clear idea of where you wanted to go?

Kirnadz Anhelina: I got on the bus and knew I wanted to get to Germany. I know a few people here. Germany also has a reputation for helping people who are in desperate situations. One problem on my journey here was the wait at the Polish border. We had to wait for 20 hours before we were allowed to continue. But even though we had to wait, the conditions were quite “humane,” if I can put it that way – there were toilets and we were offered food.

one: Did you have to deal with a lot of red tape when you finally reached Germany?

Kirnadz Anhelina: I certainly wasn’t used to having to wait weeks for an appointment. But I was fortunate because I was able to conduct all of my official appointments in English and was warmly welcomed. I am incredibly grateful for this.

one: How did you end up at REWE?

Kirnadz Anhelina: Someone at the refugee facility where I was staying saw some job postings for the logistics industry, including the REWE logistics centre in Eitting. Several of us applied for positions and were hired. I now work full-time as a picker in the dry goods department, assembling the goods that are sold at the supermarkets.

one: How do you like this job?

Kirnadz Anhelina: At the beginning, it was a real change, of course, because the work was more physical than what I had done before. But it was a conscious decision for me to be independent and earn my own money. There are, of course, people who need support because they have no other option. But as long as I am able to work, I want to be able to support myself. I am very grateful to have found such a great employer. My colleagues at REWE gave me a warm welcome and made me feel like a part of the team. We work very well together and are able to help one another when it comes to communication. 

Ed. note: This entire interview was thankfully translated by another REWE colleague, Oleg Berkuzki (Team Lead Fruit and Meat), who is originally from Ukraine and has lived in Germany for a long time.

one: Would you like to close the interview by telling us how your parents are doing? Are you in regular contact with them?

Kirnadz Anhelina: I talk to my parents on the phone every day. It’s been about a year since the start of the invasion, and people are trying to live with this new reality somehow. There’s nothing else you can do. They’re rebuilding the country, which is increasingly difficult because critical infrastructure like electricity is now being attacked as well. But that’s war. There are no routines anymore. We don’t know what will happen from one day to the next and this uncertainty will remain.

one: Kirnadz, thank you very much for speaking with us.

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Menschen
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Kommentare
Jacqueline
vor 1 Jahr und 7 Monaten

Vielen Dank für das Interview und Danke an Kirnadz Anhelina für die Bereitschaft hierfür. Ich wünsche dir Kirnadz Anhelina und deiner Familie ganz viel Kraft und dir ganz viel Freude und liebe sowie hilfsbereite Menschen hier in Deutschland.

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